Botschaft von Abdullah Öcalan zum 8. März
Abdullah Öcalan hat eine Botschaft an Frauen verfasst. Der Brief wurde im Rahmen einer Kundgebung zum internationalen Frauenkampftag in Amed verlesen.

In der kurdischen Widerstandshochburg Amed (tr. Diyarbakır) ist auf einer Kundgebung anlässlich des internationalen Frauenkampftages 8. März eine Botschaft von Abdullah Öcalan an die Frauen verkündet worden. Der Brief wurde von der Rechtsanwältin Suzan Akipa von der Anwaltskanzlei Asrin verlesen:
Meine grundlegende Lebensmaxime ist ein faszinierendes Leben mit euch!
Ich bin mir im Klaren darüber, dass ihr an jedem Ort, die Frauen zu dem machen, was sie sind, die menschliche Realität in all ihrer Nacktheit erlebt. Das Leben in dieser Form mit euch, von dessen faszinierendem Wert ich niemals abgewichen bin, ist wohl zu meiner grundlegenden Lebensmaxime geworden und verleiht mir Kraft. Seine großartige und freie Wirklichkeit wird mindestens ebenso sehr zu einem Grundsatz Mesopotamiens werden – oder ist es bereits geworden.
Die Frage der Frauenbefreiung behält ihre volle Bedeutung. Der demokratisch-kommunalistische Prozess ist die aktualisierte Form der matrilinealen Gesellschaft. Nur auf diesem Wege kann gesellschaftliche Realität erlangt werden. Solange die Kultur der Vergewaltigung nicht überwunden wird, bleiben die gesellschaftlichen Wahrheiten in den Bereichen Philosophie, Wissenschaft, Ästhetik, Ethik und Religion verborgen. Solange die tief in unserer neuen Gesellschaft verwurzelte patriarchale Kultur nicht zerschlagen wird – wie es auch der Marxismus belegt – wird der Erfolg des Sozialismus unmöglich bleiben. Der Weg zum Sozialismus führt über die Frauenbefreiung: Ohne Frauenfreiheit gibt es weder echten Sozialismus noch sozialistische Menschen, und ohne Demokratie ist dieser Weg nicht zu beschreiten.
Meine erste Prüfung im Sozialismus war zu lernen, wie ich mit einer Frau sprechen kann. Wer nicht weiß, wie man mit einer Frau spricht, kann kein:e Sozialist:in sein. Die sozialistische Haltung eines Mannes zeigt sich in seiner Beziehung zur Frau.
Das Heilige gehört der Frau. Die Frau ist das Universum selbst; der Mann
ist eine Abweichung, ein abtrünniger Planet. Die erste Sprache wurde
von Frauen geschaffen, um mit ihren Kindern zu kommunizieren. Kultur
wurde von Frauen geschaffen. Die Geburt der Gesellschaft ist das Werk
von Frauen. Das Heilige und Göttliche gehört ihnen.
Ich habe eine Ideologie der Frauenbefreiung für Frauen entwickelt, die sich auf vier Ebenen gliedert – es handelt sich dabei um eine Theorie. Die ursprüngliche Frauenkultur – das Zeitalter der Göttinnen – reicht von 10.000 bis 4.000 v. Chr. Die monotheistischen Religionen beginnen mit Babylon. Das babylonische Epos erzählt die Geschichte der Versklavung der Frau, und der babylonische Schöpfungsmythos zählt zu den Grundpfeilern der mesopotamischen Mythologie. Zwischen 4.000 und 2.000 v. Chr. begann die Stellung der Frau zu schwinden. Nach dem Zerfall der ursprünglichen Frauenkultur entstand gemeinsam mit den Mitanniern die Figur der Palastfrau – Nofretete zählt zu diesen Palastfrauen. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Palastfrau zur heutigen Hausfrau.
Ihr kennt sicherlich die Sati-Kultur und -Tradition: Im Sati-Kult wurden Frauen ins Feuer geworfen und verbrannt. Die letzte dokumentierte Anwendung fand im Jahr 1832 statt. Die Briten setzten dieser Praxis ein Ende.
Die Wiedergeburt ist wichtig. Die Frau darf nicht allein biologisch betrachtet werden – sie muss auch gesellschaftlich, kulturell und historisch erfasst werden. Wie Simone de Beauvoir sagte: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.“ Ich bin weder gegen Ehe noch gegen Liebe, doch täglich werden im Namen der Liebe schreckliche Morde verübt. Kann ein Mensch die Person töten, die er liebt? Das ist nicht Liebe. Es ist bekannt, dass viele Frauen sich wegen solcher Beziehungen das Leben genommen haben.
Dann existiert auch eine Kultur der freien Frau – eine Kultur, der ihr euch heute annähert. Frauen streben danach, die traditionelle Rolle als Mutter und Ehefrau zu überwinden, bewegen sich aber noch immer in einem System, das lediglich etwa zehn Prozent der Freiheitskultur zulässt. Die eigentliche Herausforderung ist der Kampf gegen das patriarchale Denken.
Die patriarchale Gesellschaftsordnung schafft unzählige Probleme für Frauen: Es gibt Gewalt, Ausbeutung, Inzest, Vergewaltigung – und Mädchen sind ständig der Gefahr ausgesetzt, ermordet zu werden. Was werdet ihr tun, wenn morgen oder übermorgen auch Kinder getötet werden? Genau darauf zielt der Begriff der Sati-Kultur ab – gegen diese Kultur, gegen diese Denkweise müsst ihr ankämpfen. Ihr tragt immer noch Überreste davon in euch. Ihr müsst euch davon befreien.
Die Frauenfrage ist gegenüber der kurdischen Frage weitaus tiefergreifend. Es existiert eine Frauenfrage, die noch viel grundlegender und verwurzelter ist als die der Kurd:innen. Wir haben erst einen kleinen Anfang gemacht. Die Kultur des Krieges und der Gewalt richtet sich primär gegen die Frau, und schon ein kleiner Rückschritt dieser Kultur ist der Antrieb des Widerstands.
Der Geist dieser Zeit ist die demokratische Politik; ihre Sprache ist die Sprache des Friedens. Der Aufruf zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft bedeutet zugleich eine Renaissance für die Frauen. Ich grüße alle Frauen, die an das gemeinschaftliche Zusammenleben glauben und meinem Ruf folgen – mit der erneuerten und vollendeten Liebe von Mem û Zîn und Derweşê Evdî – und wünsche euch zum 8. März, dem Internationalen Tag der arbeitenden Frauen, alles Gute.
Mit stets herzlichen Grüßen und Liebe,
Abdullah Öcalan
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