Ist das der Anfang vom Ende für das Assad-Regime?

2016 nahm das Assad-Regime Aleppo nach wochenlanger Belagerung ein. Acht Jahre später erobern die Rebellen die Stadt in nur zwei Tagen zurück. Wir geben mit unseren Partner*innen einen Überblick über die jüngsten Ereignisse und Antworten auf die drängendsten Fragen.

Zerstörte Häuser in Aleppo. Das Regime bombardiert Idlib und Aleppo derzeit ohne Unterbrechungen.

„Die aktuelle Lage in Syrien ist äußerst komplex und gefährlich, die Entwicklungen überschlagen sich. Es ist kaum zu fassen, dass die Befreiung Aleppos nur zwei Tage brauchte.“
– Raya, Aktivistin aus Suweida

Am 27. November startete eine Koalition oppositioneller Kräfte eine Offensive gegen das Assad-Regime im Nordwesten Syriens. Unter der Führung des islamistischen  Milizenbündnisses Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) konnten die Kämpfer zahlreiche Ortschaften, darunter Aleppo – Syriens zweitgrößte Stadt und ein bedeutendes Handelszentrum – nahezu ohne Gegenwehr einnehmen und die Regimetruppen vertreiben. 

Die Offensive “Deterring Aggression” ist jedoch noch nicht beendet und bewegt sich in Richtung Süden: Eigenen Aussagen zufolge haben die oppositionellen Kämpfer sogar bereits Hama eingenommen. Sie ist eine strategisch bedeutsame Stadt, die sowohl eine wichtige Verbindung zwischen Aleppo im Norden und Damaskus im Südwesten als auch zur Küste und den dortigen russischen Militärstützpunkten darstellt. Anders als in Aleppo stoßen sie hier auf erheblichen Widerstand. Die umliegende Region ist auch deshalb von besonderer Brisanz, weil dort viele Alawitinnen und Alawiten leben – Angehörige der Religionsgemeinschaft, der auch Präsident Assad angehört. Die kommenden Entwicklungen in dieser Region könnten entscheidend für den weiteren Verlauf des Konflikts sein.

In diesem aktuellen Statement vom 4. Dezember ruft die HTS die alawitische Gemeinde dazu auf sich von dem Assad-Regime zu lösen und Teil des Syriens der Zukunft zu werden.

Wer bildet diese Koalition oppositioneller Kräfte?

  • Hayat Tahrir al-Sham (HTS)

Die prominenteste und wichtigste Gruppe ist das islamistische Milizenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS), welche die Offensive anführt. Die HTS, ehemals al-Nusra-Front, war einst ein syrischer Ableger von al-Qaida, sagte sich jedoch 2016 von ihr los und war stets ein erbitterter Gegner der islamistisch-extremistischen Terrororganisation Islamischer Staat (IS). In den vergangenen zwei Jahren hat sich die HTS zunehmend gemäßigt präsentiert, ihr Anführer Abu Mohammad al-Jolani gibt sich derzeit auffallend diplomatisch. Er versucht sich bei der Internationalen Gemeinschaft als möglicher Nachfolger für das Assad-Regime ins Spiel zu bringen.

Von Seiten der Gesellschaft gab es in den vergangenen Jahren viel Kritik an den Machthabern, die schon vor dem 27. November große Teile Idlibs kontrollierten. Immer wieder protestierten Menschen gegen das Gewaltmonopol der HTS, zuletzt im Frühling dieses Jahres. Es gibt also einen großen Unterschied, ob man die HTS an sich unterstützt oder das, was sie aktuell gegen das syrische Regime ausrichten. Es ist eine Dissonanz, die deutlich wird.

“Im Ausland wird die HTS oft mit dem IS auf eine Stufe gestellt, aber das ist ein falsches Bild. Ich würde sagen, sie sind aktuell nun mal das Beste in der sonst ausweglosen Situation – es fehlen schlichtweg bessere Optionen.”
 Souad Al-Aswad, Change Makers

Wir haben uns mit der HTS arrangiert, solange sie uns ein Leben in Würde ermöglicht. Wir lehnen aber jede Form von Unterdrückung ab. Ob das Projekt der HTS langfristig Bestand haben wird oder nur eine Übergangslösung bleibt, wird letztlich davon abhängen, ob es tatsächlich den Menschen dient und nicht bloß den Interessen einer neuen Machtelite.
Mohammed Shakerdy, Ziviles Zentrum  Atareb 

  • Nationale Befreiungsfront

Die Nationale Befreiungsfront wurde 2018 durch den Zusammenschluss von elf Milizen gegründet, die der Freien Syrischen Armee in Idlib angehörten. Diese Koalition entstand vor allem als Reaktion auf die wachsende Macht der HTS und deren Versuch, die Kontrolle über die Region zu übernehmen, als auch den Vormarsch von Assads Truppen in Idlib zu stoppen. Die Nationale Befreiungsfront wird von der Türkei militärisch, logistisch und finanziell unterstützt. 2019 gab die Türkei ihre Eingliederung in die Syrische Nationale Armee bekannt.

  • Syrische Nationale Armee (SNA)

Die SNA wurde 2017 von der Türkei gegründet, ausgebildet und direkt bewaffnet. Ihr Einfluss konzentriert sich auf die von der Türkei besetzten Gebiete im Norden Aleppos. Die SNA sieht sich selbst als eine Erweiterung der syrischen Revolution, die sich einen gemäßigten Diskurs und nationale Slogans zu eigen macht. Seit ihrer Gründung konzentriert sie sich jedoch auf die Umsetzung der türkischen Agenda in Syrien, insbesondere auf den Kampf gegen Kurd*innen. 

  • Weitere: Nour al-Din al-Zenki, Jaysh al-Izza und Ahrar al-Sham.

Waren die Offensive und dieser empfindliche Schlag gegen das Regime absehbar?

Nach Angaben der HTS ist die aktuelle Offensive eine Vergeltungsmaßnahme für die jüngsten Angriffe des Assad-Regimes auf Städte in Idlib, darunter Ariha und Sarmada. Ziel sei es, künftige Angriffe auf die Region zu verhindern. Tatsächlich greift das Regime seit Jahren kontinuierlich  die Region und insbesondere die Randgebiet – an den 2020 vereinbarten Waffenstillstand hat sich das Regime nie gehalten. 

Ob die letzten Angriffe ausschlaggebend waren, bleibt fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass sie vor Sorge um Machtverlust getrieben sind. Besonders die Befürchtungen über eine mögliche Annäherung zwischen der Türkei und dem Assad-Regime haben die Lage verschärft. Der türkische Präsident Erdoğan strebt seit Monaten einen Deal mit dem syrischen Machthaber an: Die Türkei beendet seine Militäreinsätze in Syrien und zieht ihre Truppen zurück, während Assad im Gegenzug die Rücknahme syrischer Geflüchteter zusagt. Der Kuhhandel würde die Region wieder unter Assads Kontrolle stellen – ein Szenario, das bei der Bevölkerung große Angst auslöst. 

Unser Partner Anas AL-Rawi vom Hooz-Zentrum hat bereits im vergangenen Juli Kämpfe vorausgesagt, sollte es zu dem Deal kommen:

„Nicht nur die Bevölkerung wird versuchen, sich zu wehren. In Syrien ist nicht nur die Türkei präsent, auf regionaler Ebene gibt es viele bewaffnete Gruppen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die einschreiten werden. Ich bin mir sicher, dass es zu Kämpfen kommen wird, noch bevor die Versöhnung zwischen den beiden Parteien abgeschlossen ist.“ 

Dass die Kämpfer nahezu ungehindert bis nach Aleppo vordringen konnten, dürfte aber alle, auch sie selbst überrascht haben. Es scheint zudem kaum vorstellbar, dass die Türkei und die USA von dieser Offensive nicht im Vorfeld informiert waren. 


Wie reagieren die Syrer*innen auf die Offensive?

Die Reaktionen auf die Ereignisse sind vielfältig. Viele freuen sich und feiern die Befreiung Aleppos und zahlreicher Ortschaften. Nach Jahren der Vertreibung und Trennung können sie das erste Mal ihre Familien wiedersehen und in die Arme schließen. 

„Die Befreiung von Aleppo war für uns alle eine riesige Überraschung – niemand hätte je zu träumen gewagt, dass dies möglich wäre.“
 Souad Al-Aswad, Change Makers

“Die Befreiung Aleppos könnte ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Sturz des Regimes sein. Sie gibt uns die Chance, die ursprünglichen Ziele der Revolution neu zu beleben: ein friedliches, gemeinsames Zusammenleben aller Syrer*innen und den Aufbau eines zivilen, inklusiven Modells, das von den Menschen Aleppos selbst gestaltet und verwaltet wird – als klare Alternative zur Unterdrückung unter Assad.”
Mohammed Shakerdy, Ziviles Zentrum  Atareb 

Die Offensive wirft aber auch dunkle Schatten. Insbesondere kurdische Menschen und andere Minderheiten sehen sich von der Gewalt türkisch-naher Milizen bedroht. Vor allem die SNA will mit der Hilfe der Türkei die Demokratischen Kräfte Syriens  (SDF), die der militärische Arm der Selbstverwaltung Nordostsyriens sind, aus den Gebieten westlich des Euphrats vertreiben und Stadt Manbij erobern. Hunderttausende Kurdinnen und Kurden müssen fliehen, um den Angriffen zu entkommen. Die SDF kündigte an, Zivilist*innen aus mehreren Gebieten der Provinz Aleppo in sicherere Regionen im Nordosten Syriens zu evakuieren. Doch auch diese Bemühungen werden durch Angriffe der SNA erschwert. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte warnt eindringlich vor der Gefahr möglicher Massaker an der kurdischen Bevölkerung. 

„Die Angriffe auf kurdische Gebiete haben schwere Folgen: Sie verschärfen die humanitäre Krise, treiben mehr Menschen in die Flucht und fördern Spannungen zwischen ethnischen Gruppen. Die Vertriebenen brauchen dringend Unterstützung.“
Heja Emin, PÊL Civil Waves Zentrum   

Die Spannungen und Ängste beschränken sich jedoch nicht nur auf die kurdische Bevölkerung. Auch in Aleppo, wo die arabische Bevölkerung die Befreiung zunächst mit Erleichterung aufgenommen hat, herrschen Misstrauen und Unsicherheit. Die Angst vor der Rache des Assad-Regimes und den möglichen Folgen des Machtwechsels prägt die Stimmung in der Stadt. Zwar bemühen sich die Kämpfer, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, indem sie Gewalt und Plünderungen strikt unterbinden. Doch die Angst vor den Konsequenzen, insbesondere durch erneute Luftangriffe des Regimes, bleibt allgegenwärtig. 

„Unsere größte Sorge ist, dass das Regime erneut eine False-Flag-Operation inszenieren und uns zum Beispiel mit Chemiewaffen angreifen könnte, um danach der Opposition die Schuld zuzuschieben – ein Vorgehen, das wir leider bereits erlebt haben. Auf den Straßen kursieren Flugblätter mit Überlebenstipps, wie das Aufsuchen hoher Gebäude, um dem tödlichen Gas zu entkommen.“
Souad Al-Aswad, Change Makers 


Wie reagiert das Assad-Regime? 

Die syrischen Regierungstruppen reagieren auf die Offensive mit massiven Angriffen auf Idlib und Aleppo. Insbesondere Idlib-Stadt erlebt seither eine nicht abreißende Serie intensiver Luftschläge. Die Angriffe treffen keine Stützpunkte der Milizen, sondern gezielt zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Tankstellen, Flüchtlingslager sowie dicht besiedelte Wohngebiete. Das öffentliche Leben in der Stadt ist vollständig zum Erliegen gekommen: Strom- und Internetverbindungen sind unterbrochen, Geschäfte geschlossen, zahlreiche Straßenzüge liegen in Trümmern. Dennoch werden die Luftangriffe unvermindert fortgeführt. Dabei setzt das Regime auch international geächtete Fassbomben ein – improvisierte Sprengkörper, die mit Sprengstoff, Nägeln, Metallsplittern und brennbaren Chemikalien gefüllt sind. Fassbomben haben eine verheerende Streuwirkung, richten besonders in dicht besiedelten Gebieten wie Idlib-Stadt oder Aleppo enorme Zerstörung an.

Zehntausende Menschen fliehen verzweifelt aus den Städten und suchen Schutz auf offenen Feldern, wo sie bei eisigen Nachttemperaturen ausharren müssen. Es mangelt an Unterkünften, Schutz vor der Kälte, sauberem Wasser und Grundnahrungsmitteln. Die humanitäre Lage, die seit Jahren am Limit ist, droht nun endgültig zu eskalieren. Die Angriffe treffen eine ohnehin schwer traumatisierte Zivilbevölkerung, die dringend Schutz und Hilfe braucht.

“Dem Regime geht es nur um Rache und kaum jemand in Idlib-Stadt hat die Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Deshalb verharren viele ängstlich in ihren Häusern, während andere versuchen auf Bauernhöfen am Stadtrand Zuflucht zu finden. Auch ich bin mit meiner Familie dorthin geflüchtet, nachdem mein Viertel bombardiert wurde. Eine benachbarte Familie wurde bei dem Angriff ausgelöscht. Die Brutalität der Angriffe sind kaum auszuhalten und bis jetzt gibt es keine internationale Reaktion, um das Regime zu stoppen.”
Huda Khaity, Women Support & Empowerment Center Idlib 


Können die Menschen jetzt zurückkehren?

Im Dezember 2016 hatte das Assad-Regime Aleppo fast vollständig eingenommen, das syrische Militär kontrollierte die Straßen. Die grünen Busse, mit denen mehrere Zehntausend Einwohner*innen nach Idlib abtransportiert wurden, sind damals zum Symbol für die gezielten Vertreibungen in Syrien geworden.

Insgesamt haben ca. 300.000 Menschen aus Aleppo in der benachbarten Provinz Zuflucht gesucht, wo sie in überfüllten Flüchtlingslagern und Städten niederließen. Idlib wurde zum Sammelbecken für Oppositionelle und ihre Familien, was die humanitäre Krise in der Region weiter verschärfte. Einige könnten jetzt in ihre Heimatorte zurückkehren, stoßen aber auf unerwartete Probleme: 

„Als ich die Nachricht von der Befreiung meiner Heimatstadt hörte, war meine Freude riesig. Aber Kafranbel ist kaum wiederzuerkennen. Von meinem Haus steht nur noch das Skelett. Die Steine wurden abgetragen, Kabel, Rohre und sogar Stahlträger aus den Wänden gerissen und alles verkauft. Die Häuser sind zerstört, die befreiten Orte gleichen Ruinen. Selbst die Olivenbäume wurden gefällt, das Holz ebenfalls verkauft. Kein einziges Haus ist mehr bewohnbar. Außerdem haben Assads Soldaten riesige Minenfelder hinterlassen, um sich gegen mögliche Angriffe der Rebellen zu schützen. Sogar der Zement unserer zerstörten Häuser ist vermint. Ein einziger falscher Schritt kann uns das Leben kosten. Spezialisierte Teams arbeiten bereits daran, die Minen zu räumen, doch wie lange es dauern wird, bis wir sicher zurückkehren können, weiß niemand.
Souad Al-Aswad, Change Makers


Ist das der Sturz des Regimes?

Die Ereignisse im Norden Syriens werfen ein Schlaglicht auf die Schwäche des Assad-Regimes, dessen Kontrolle zusehends bröckelt. Auch Assads Unterstützer – Russland, Iran und die Hisbollah – stehen derzeit unter Druck. Sollte es den Rebellen gelingen, weitere wichtige Städte wie Hama und Homs einzunehmen, könnte dies das Ende der Herrschaft Assads bedeuten.

Russland, das sich als Schutzmacht Syriens versteht, hält sich bislang zurück und fordert von der syrischen Regierung, die Lage eigenständig unter Kontrolle zu bringen. Zwar hat Moskau Berichten zufolge Söldner aus afrikanischen Ländern entsandt, doch gleichzeitig wurden alle russischen Kriegsschiffe aus der Militärbasis in Tartus abgezogen. Der Iran wiederum überlegt, eigene Truppen zu entsenden, während pro-iranische Milizen aus dem Irak bereits auf dem Weg sind, um Assad zu unterstützen. Allerdings ist ihre Stärke begrenzt und ihr Einfluss auf das Kriegsgeschehen entsprechend gering.

Am morgigen Freitag treffen sich die Außenminister von Iran, Russland und der Türkei im Rahmen des Astana-Formats, um über die Situation zu beraten. Ob Assads Verbündete erneut massiv eingreifen, bleibt abzuwarten. Die aktuelle Situation zeigt aber deutlich: Ohne die russische Intervention im Jahr 2015 wäre die Machtverteilung in Syrien heute eine völlig andere.

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