Nordwestsyrien bald wieder unter Assads Kontrolle?

 


“Mörder, Terrorist” – Erdoğan schert sich nicht mehr darum, wie er einst gegen Assad wütete. Der türkische Präsident ist auf grenzenlosem Versöhnungskurs und schreitet nun zur Tat.


Freut sich Assad zu früh oder zu Recht?

Im Juli verkündete der türkische Präsident Erdoğan seinen Wunsch, sich  mit Syriens Machthaber Assad zu versöhnen. Einst waren beide enge Freunde, verreisten gemeinsam  mit ihren Ehefrauen und duzten sich brüderlich.  Doch als 2011 die syrische Revolution ausbrach, wurden sie zu erbitterten Gegnern. Aus politischem Kalkül stellte sich Erdoğan schnell auf die Seite der syrischen Opposition und nannte Assad in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich einen Mörder und Terroristen. Mit jemandem wie Assad, der über eine Million seiner eigenen Bürger getötet habe, sei kein Frieden möglich, erklärte er. Jetzt vollzieht er erneut die Kehrtwende.

Assad hat den Abzug der türkischen Truppen aus Syrien stets zur Voraussetzung für Gespräche mit Erdoğan gemacht. Die Türkei kontrolliert im Norden Syriens weite Gebiete als de facto Besatzungsmacht, unterstützt von verbündeten Milizen, darunter Afrin und Azaz. In der Provinz Idlib hat die Türkei großen Einfluss und unterhält eine militärische Präsenz, während die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) weite Teile der Region kontrolliert. Im Nordosten führt Erdoğan einen erbitterten Krieg gegen die kurdische Selbstverwaltung. 

Der türkische Präsident zeigt sich nun bereit, seine Militäreinsätze zu beenden und sich aus Syrien zurückzuziehen. Im Gegenzug soll Assad die syrischen Geflüchteten zurücknehmen. Zwar führt die Türkei bereits umfangreiche Abschiebungen nach Syrien durch, doch der Nordwesten Syriens gerät zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen. Für den geplanten großangelegten Abschiebecoup von mindestens zwei Millionen Menschen braucht Erdoğan daher die Kooperation mit Assad.

Der Weg in die Türkei führt nur noch über Damaskus

Um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, hat die türkische Regierung deshalb eine neue Regelung eingeführt: Syrische Staatsangehörige ohne gültigen Reisepass  wird der Grenzübertritt am Übergang Bab al-Hawa zwischen Türkei und Syrien verweigert. Den Reisepass müssen sie sich vom syrischen Regime ausstellen lassen. Doch eine Passbeschaffung ist vor allem für Syrer*innen gefährlich, die aus den von der syrischen Opposition kontrollierten Gebiete kommen. Auch die in der Türkei lebenden Syrer*innen, die vor Assad geflüchtet sind, fürchten den Gang in Einrichtungen des Regimes. Somit bleibt die Grenze für viele Syrer*innen geschlossen. 

Bereits vor der Neuregelung war die Grenze in die Türkei für Syrer*innen kaum durchlässig. Das Problem waren bisher allerdings nicht die Pässe – auch abgelaufene oder von den lokalen Machthabern vor Ort ausgestellte Ausweisdokumente wurden meist akzeptiert. Um in die Türkei einzureisen, braucht es seit Jahren Sondergenehmigungen, die nur wenige Menschen erhalten. Seit den verheerenden Erdbeben im vergangenen Jahr sind die Bedingungen dafür noch restriktiver. Die Angst vor weiteren flüchtenden Syrer*innen ist in der Türkei groß, und damit der Wunsch, die Grenzen dicht zu halten.

Verrat an der Opposition und Millionen Menschen

Für syrische Händler könnte die Neuregelung ein großes Problem darstellen, sollte für sie keine Ausnahme eingeräumt werden. Für die Mehrheit der Bevölkerung in Nordwestsyrien ändert sich zumindest zunächst kaum etwas. Langfristig ist ihr das Assad-Regime mit dieser Regelung aber wieder einen Schritt nähergekommen. Denn diese neue Anweisung ist Teil des Annäherungsprozesses zwischen Erdoğan und Assad, der letztlich zur Übergabe der von der Opposition kontrollierten Gebiete führen soll. Ankara betont, dass die türkische Regierung ihre Bemühungen fortsetzen werde, den Weg für eine Normalisierung der Beziehungen zu Damaskus zu ebnen – basierend auf dem Prinzip des guten Willens und ohne Vorbedingungen.

Immer wieder hatten sich bereits im vergangenen Jahr Delegationen beider Staaten unter russischer Führung getroffen, um über Bedingungen zu verhandeln, die zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei führen könnten. Ein weiteres Treffen steht nun kurz bevor. Die Tagesordnung für den Termin Ende September, an dem neben Vertretern des Assad-Regimes und der Türkei auch Russland und Iran teilnehmen werden, steht bereits. Im Fokus: Der Abzug türkischer Truppen aus Syrien, da „[…] Damaskus bestrebt ist, durch jegliche Maßnahme die vollständige Souveränität über sein gesamtes Territorium wiederherzustellen“, wie ein russischer Diplomat erklärte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erkannte die Bereitschaft der türkischen Seite an, über konkrete Kriterien gebe es bislang aber noch keine Einigkeit. „Wir sprechen über die Rückkehr der Flüchtlinge und die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der terroristischen Bedrohung, was die Anwesenheit der türkischen Truppen unnötig machen wird.“

„Das ist nichts weniger als ein eiskalter Verrat. Die türkische Regierung paktiert mit dem Assad-Regime, das unser Volk abgeschlachtet und in die Flucht getrieben hat. Erdoğan führt seine Machtspiele auf unseren Leichenbergen aus – und das werden wir nicht schweigend hinnehmen“, kommentiert unser Partner Mohammed Shakerdy, Leiter des zivilen Zentrums Atareb.

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