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Irak: Racheakt gegen die Frauenbewegung

 

Interview


"medico international" 12.09.2024   

Im Irak formiert sich breiter Widerstand gegen eine geplante Änderung des Personenstandsgesetzes. Gespräch mit medico-Partnerin Nadia Mahmood

medico: Das säkulare Personenstandsrecht von 1959 soll reformiert und Eheschließungen durch nichtstaatliche religiöse Gerichte sollen gleichgestellt erlaubt mit Eheschließungen vor staatlichen Gerichten. Dagegen wehren sich Frauenorganisationen im ganzen Land. Worum geht es genau?

Nadia Mahmood: Es gibt einen langen Kampf im Irak um das Personenstandsgesetz, der 1959 mit der Einführung des Gesetzes Nummer 188 unter dem damaligen Präsidenten al-Hakim beginnt. Dieses Gesetz bedeutete eine Säkularisierung des Familienrechts und einen herben Bedeutungs- und Machtverlust für die bis dahin sehr wichtigen religiösen Gerichte und religiösen Gelehrten. Insbesondere die Schiiten im Land wandten sich gegen das Gesetz, weil ihre Strukturen davon besonders betroffen waren. Dennoch wurde das Gesetz erlassen und behielt seine Gültigkeit bis zur amerikanischen Invasion im Jahr 2003.

Was passierte dann?

Nur acht Monate nach der Invasion der USA, also im Dezember 2003, erließen die einflussreiche schiitische Partei „Hoher Islamrat im Irak“ unter der Führung von Sayyid Abdel Aziz al-Hakim, der aus derselben Familie wie der ehemalige Präsident al-Hakim stammt, die Resolution 137. Damit sollte das säkulare Personenstandsrecht durch das religiöse ersetzt werden. Dieses Vorhaben stieß auf breite gesellschaftliche und politische Ablehnung. Auch der amerikanische Statthalter, Paul Bremer, wandte sich gegen eine Änderung des säkularen Gesetzes von 1959.

Zwei Jahre später, 2005, hatten die Schiiten eine Mehrheit in der verfassungsgebenden Versammlung und konnten sich mit der Einführung des Artikels 41 durchsetzen. Dieser besagt, dass in personenrechtlichen Fragen, jedes Individuum sich an seine konfessionellen Instanzen wenden kann. Allerdings blieb dieser Artikel sehr umstritten und kam nicht zur Anwendung.

2014, 2019 und 2021 gab es wiederholte Versuche, das Personenstandsrecht auf Grundlage der ja´faritischen Rechtsschule der Schiiten zu reformieren, die es erlaubt, neunjährige Mädchen zu verheiraten. Auch die Rechte geschiedener Frauen wären davon betroffen, etwa indem sie das Sorgerecht für ihre Kinder vollständig verlieren würden. Aber das Vorhaben scheiterte immer wieder am Widerstand zivilgesellschaftlicher Kräfte.

Gab es auch auf anderen Feldern Gesetze, die die Rechte der Menschen einschränken?

2021 wurden zwei Gesetze eingeführt, die sowohl Prostitution als auch Homosexualität verbieten. Das gab es vorher noch nicht. Es war ein frontaler Angriff und ein Racheakt gegen die Revolution von 2019, gegen die progressive Zivilgesellschaft und gegen die Frauenbewegung in Irak, der vorgeworfen wurde, Homosexualität und „Genderideologie" in den Irak einführen zu wollen.

Wie ordnest du diese Maßnahmen in den politischen Kontext ein?

Weil die konservativen Parteien über viele Jahre an unserem Widerstand gescheitert sind, haben sie diese beiden Gesetze erlassen, um sich scheibchenweise ihrem eigentlichen Ziel zu nähern, der Reform des Personenstandgesetzes, die seit kurzem wieder auf der Tagesordnung steht. Ich gehe nicht davon aus, dass dieses Gesetz wirklich erlassen wird, jedoch stellt der aktuelle Versuch eine Fortsetzung dieser regressiven Politik dar.

Hast Du eine Erklärung dafür, warum in den letzten zwanzig Jahren so häufig versucht wurde, das Personenstandsrecht zu ändern?

Der Irak war lange ein säkulares Land. Während des Krieges gegen Iran (1980-1988) verlor Saddam Hussein viel Unterstützung in der Bevölkerung. Um dem entgegenzuwirken, flüchtete er sich Ende der 1980er Jahre in die Religion, stärkte die Rolle der sunnitischen Stämme, baute viele Moscheen, die Frauen begannen vermehrt, den Hijab zu tragen, die Flagge wurde um den Schriftzug Allahu Akbar erweitert. Er tat dies aber nicht, um die Gesellschaft nach dem Vorbild Irans zu islamisieren, sondern um die eigene Macht zu konsolidieren und die schiitischen Gruppen im Land zu schwächen, die als irantreu angesehen wurden.

Kurzum: Der Säkularismus war bereits unter Saddam Hussein auf dem Rückzug. Nach seinem Sturz sahen das die schiitischen Parteien und Gruppen als ihre historische Chance an, eine eigene Agenda zu setzen. Schiitische Milizen zwangen nach 2003 den Frauen den Hijab auf, andere Frauen wurden bedroht und die Säkularität der irakischen Gesellschaft ging stark zurück.

Hatte die US-Invasion und der islamisch konnotierte Widerstand gegen die Besatzung etwas mit der Hinwendung zum Glauben zu tun?

In den schiitisch dominierten Gebieten des Iraks – in der Mitte und im Süden – begannen schiitische Gruppen und Milizen unmittelbar nach dem Sturz Saddams im April 2003 an den Universitäten Studentinnen anzugreifen und sie wegen ihrer Kleidung zu belästigen. In den sunnitisch kontrollierten Gebieten gab es auch Probleme. Die Invasion gab diesen Gruppen aber überhaupt erst die Möglichkeit, sich auf diese Weise zu betätigen.

Wie sieht der Widerstand gegen die Änderungspläne des Personenstandsgesetzes aus?

Alle Parlamentarierinnen haben sich zusammengeschlossen, um gegen das Gesetzesvorhaben vorzugehen. Dies ist in der irakischen Parlamentsgeschichte ein einmaliger Vorgang. Sie haben alle männlichen Abgeordneten aufgerufen, nicht im Parlament zu erscheinen, damit dieses Vorhaben gar nicht erst diskutiert werden kann. Es gab Demonstrationen, die von der Frauenbewegung organisiert wurden und für die sehr breit mobilisiert wurde – Journalistinnen, Anwältinnen, aktuelle und ehemalige Parlamentarierinnen sowie die Studierendenschaft beteiligten sich klassen- und konfessionsübergreifend. Es herrscht Einigkeit in der Frage, dass für ein solches Gesetz kein Platz im Irak herrscht.

Welche Chancen räumst Du dem Protest ein?

Es ist eine Schlacht und wir werden gewinnen! Hinzu kommt, dass in dieser Woche Aussagen des obersten geistlichen Führers der Schiiten im Irak, Ajatollah as-Sistani, publik wurden, in denen er den schiitischen Parteien damit droht, das Vorhaben mit einer Fatwa zu verbieten, wenn sie bei der Reform nicht im Konsens mit allen Parteien und zivilgesellschaftlichen Kräfte agieren. As-Sistani weiß, dass die gesellschaftliche Stimmung gegen eine solche Gesetzesreform ist. Es gab bisher nur eine Lesung der Gesetzesänderung im Parlament, noch ist alles möglich!

Das Interview führte Imad Mustafa.

Die Aktivistinnen von Aman engagierten sich bereits seit Jahren in unterschiedlichen Bereichen für die soziale, politische und ökonomische Gleichstellung von Frauen im Irak. Partei- und konfessionsunabhängig fanden sie sich im September 2019 knapp 40 Frauen aus den unterschiedlichen Teilen des Iraks zusammen und gründeten die neue Organisation. Aman bedeutet auf Arabisch so viel wie „Sicherheit“ oder „sicher sein“. Das Wörterbuch spuckt aber auch „Schutz“ und „Frieden“ in der Übersetzung aus. All diese Umschreibungen drücken aus, worum es den Aktivistinnen von Aman geht, für sie ist die wirtschaftliche, soziale und politische Absicherung von Frauen ein entscheidender Schritt zu einer gleichberechtigten und geschlechtergerechten Gesellschaft im Irak

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