Hoffnungen und Enttäuschungen einer Teheraner Universitätsdozentin
Eine Teheraner Universitätsdozentin hatte während der landesweiten Proteste im Iran 2022 ihre Arbeit aus Solidarität mit den protestierenden Student:innen niedergelegt. Im neuen Semester wollte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Sie durfte es, jedoch ohne Honorar. Sie hat die Bedingung akzeptiert. Im Gespräch mit unserer Teheraner Kollegin Afra erzählt sie von ihren Erlebnissen, ihrer gegenwärtigen Enttäuschung und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Nennen wir sie Mitra. Sie hatte bei ihrem Mentor Rat gesucht. „Tun Sie es, bleiben Sie bei den Student:innen“, hatte der Professor geantwortet, der sich während der revolutionären Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ offen mit den Student:innen solidarisiert hatte und deswegen fristlos entlassen worden war. „Und wenn sie Ihnen erlauben, wieder zu unterrichten, zögern Sie nicht, lassen Sie nicht zu, dass die jungen Menschen ihren Geist und ihre Seele mit den veralteten und verrotteten Ideologien des islamischen Regimes füllen“, war seine Empfehlung gewesen.
Mitra folgte seinem Rat und fragte nach. Sie durfte zwei Tage in der Woche wieder unterrichten. Nur: ohne Honorar. „Ein unverschämtes Angebot seitens der Universität, aber keine Tragödie. Ich hatte schon andere Jobs, schreibe auch ab und zu Artikel für Medien“, sagt Mitra.
Der erste Unterrichtstag
„Ich fuhr mit meinem Auto zum Haupteingang der Universität“ erzählt Mitra: „Meine Hände zitterten. Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu entspannen. Doch mich hatte die Furcht vor dem Urteil der Student:innen gepackt. War ich jetzt in ihren Augen nicht eine Verräterin?“ Der Wachmann hält ihr Auto an: „Studenten dürfen nicht mit dem Auto aufs Universitätsgelände fahren.“
Sie zeigt ihm ihren Dozentenausweis. „Der Wachmann warf einen garstigen Blick auf den Lack meiner Fingernägel und meine hell gefärbten Haare, die unter dem Kopftuch hervorragten. Dann öffnete er widerwillig das Tor.“
Mitra beobachtet, wie sich etwas weiter weg einige Studentinnen mit den Sicherheitskräften der Universität streiten: „Es war, als wollten die Beamten die Studentinnen vom Uni-Gelände verweisen, weil sie keinen Hijab trugen.“
Mitra kommen die Erinnerungen an die Proteste nach dem Mord an Jina Mahsa Amini in den Sinn: „Bittere Erinnerungen mit positiven Emotionen. Die Aufregung der Hoffnung, die damals in unseren Herzen war. Erinnerungen an die Tage, als die Universität blutüberströmt war und schrie, nach Freiheit, nach Selbstbestimmung.“
Vor ihrem geistigen Auge sieht die Dozentin Bilder von Student:innen, die mit Schlagstöcken und Gummigeschoss verwundet wurden: „Die Universität hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Sicherheitskräfte des Regimes patrouillierten mit Motorrädern und Autos auf dem Uni-Campus und überwachten die Student:innen. Die Zahl der Agenten war auffällig hoch. Es war, als wären die Student:innen in einem unsichtbaren Käfig gefangen und warteten auf ihre Verhaftung. Die Atmosphäre erinnerte an die Militärlager, die man aus Filmen kennt – Lager, in denen Menschen gefangen gehalten sind, die wegen ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen verfolgt werden. Trotz erstickender Maßnahmen liefen Massen von Studentinnen ohne Hijab über das Campus-Gelände. Jungen und Mädchen begrüßten sich mit Umarmungen. Jede:r konnte spüren, dass die Kraft der Einheit und Solidarität, dass der Geist der Freiheit die infernalische Macht des Regimes überwunden und die gesamte Islamische Republik verhöhnt hatten. Das gab damals meiner gebrochenen Seele Kraft.“
Trügerische Ruhe
Heute hat die Universität ein anderes Gesicht angenommen. Die Wunden der Student:innen scheinen verheilt zu sein, und es herrscht eine tiefe Stille. Doch Mitra ist sich wie viele andere sicher: „Es ist wie Glut unter der Asche. Mit jeder Stunde nähert sich die Zeit, in der die Flamme aufs Neue entfacht wird.“ Denn die Probleme von damals wurden nicht nur nicht gelöst, sondern haben sich vermehrt: Die Unterdrückungsmaschinerie arbeitet unaufhörlich, ökonomisch geht es der Mittelschicht noch schlechter, und die staatliche Korruption schreit zum Himmel. Nur die Menschenrechtsverletzungen sind genauso gravierend wie vor dem September 2022.
Der ungewohnt gewordene Hijab
Am ersten Tag der Wiederaufnahme ihrer Lehrtätigkeit trägt Mitra zum ersten Mal seit Mahsas Tod am 16. September 2022 in der Öffentlichkeit Hijab: „Ich fühlte mich seltsam, eine Mischung aus Furcht und Traurigkeit. Ich betrat das Klassenzimmer. Meine Klasse war einst voller Hoffnung und Leidenschaft, aber jetzt gab es keine Spur mehr von diesen beiden faszinierenden Gefühlen. Ich spürte mit jeder Zelle meines Körpers, dass Enttäuschung und Wut die Überhand gewonnen hatten. Ich hatte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.“
Mitras Rücktritt war zur
Unterstützung der Student:innen geschehen, die ihr Leben für Freiheit
und Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt hatten: „Nun saßen sie im Hörsaal
und starrten mich mit kaltem, gleichgültigem Blick an, als wollten sie
mir vorwerfen: Du hast auch aufgegeben!“ Mitra kann ihnen nicht sagen,
dass sie nur aus Liebe zu ihnen und ohne Bezahlung zurückgekehrt ist.
Aber eines konnte sie ihnen mitteilen: „Jede, die will, kann ohne Hijab
in meine Klasse kommen. Es gibt hier diesbezüglich keine Grenzen.“
Sie schauen Mitra überrascht und
ungläubig an. Ein Student sagt sarkastisch: „Wissen Sie nicht, dass die
Universität angeordnet hat, dass Dozenten, die unverschleierten
Studentinnen den Zutritt zum Unterricht erlauben, von der Uni verwiesen
werden?“
„Ich würde niemals eine Frau zu einem Hijab zwingen, den ich selber nicht akzeptiere“, erwidert Mitra. Die schwere Atmosphäre im Raum weicht allmählich. Bei manchen kann Mitra ein fast unsichtbares Lächeln wahrnehmen: „Ihre Blicke wurden herzlich und freundlich.“
Die Vorladung
Vor der nächsten Unterrichtsstunde wird die Dozentin in das Büro des Sicherheitschefs der Universität gerufen: „Als ich sein Büro betrat, wurde ich von unheimlichen Blicken empfangen. Es fielen mahnende Worte, schließlich folgten Beleidigungen und Drohungen.“ Mitra wehrt sich, denn sie war ja keine Angestellte der Universität mehr: „Dann herrschte Stille. Ich vermutete, dass sie aus den Protesten der letzten zwei Jahre ihre Lektion gelernt hatten, dass sie wussten, etwas Freiheit würde eventuell die nächsten Proteste verhindern.“
Seit diesem Tag ist ihre Klasse zu einem sicheren Ort für Student:innen geworden, die hungrig nach Freiheit und Gerechtigkeit sind und über diese für Iraner:innen lebenswichtigen Themen sprechen wollen, Student:innen, die ohne Angst über ihre Abscheu vor Einschränkungen, Hijab-Zwang und religiösen Überzeugungen sprechen möchten.
„Dafür haben ich und meine Student:innen oft den bitteren Geschmack von Vorladungen zum Sicherheitsamt, Beleidigungen und Drohungen gekostet“, sagt Mitra. Jedes Mal kann sie sich „rechtfertigen und ihnen klar machen, dass wir nicht in einer Grundschule sind“. Außer Mitra gibt es auch andere Dozent:innen, die Ähnliches erleben. Sie ist also nicht allein. Außerdem haben diese Dozent:innen die Unterstützung der Student:innen.
„Mein Ziel ist es, den Student:innen Mut zu machen“ sagt Mitra: „Ich weiß, dass meine Lehrtätigkeit an der Universität nicht lange dauern wird, aber ich genieße jeden einzelnen Moment, der mir noch bleibt, und halte die Hoffnung auf eine strahlende Zukunft in mir und in den Herzen meiner Student:innen lebendig.“
Mitra hat auch eine Botschaft an die Menschen außerhalb der iranischen Grenzen: „Ich möchte, dass alle Welt weiß: Obwohl die Menschen auf den Straßen des Iran nicht mehr den gleichen Kampfeifer haben, lodert im Herzen der Universitäten und in den Klassenzimmern der Schulen ein stiller und zugleich tosender Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Er ist vielleicht nicht sichtbar, er mag nicht auf den Webseiten der Nachrichtenagenturen und in den Zeitungen stehen, aber er existiert und hört nie auf. Jeden Tag verteidigen mutige Student:innen ihre Ideale, indem sie ihre Zukunft, ja sogar ihr Leben riskieren. Mit jedem Versuch des Staates, sie zu unterdrücken, werden sie entschlossener und mit jeder Begegnung mit Sicherheitsbehörden des Regimes werden sie kreativer in ihrem friedlichen Kampf.“
Mitra glaubt, dass die Flammen dieses Kampfes nicht gelöscht werden können: „Eines Tages wird diese tapfere und furchtlose Generation ihre Rebellion auf die Straße bringen. Der nächste Aufstand wird sehr wahrscheinlich von den Universitäten ausgehen, von dieser kühnen und einzigartigen Generation, die über alles offen und gern spricht, nur nicht über Gewalt.♦
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