Die Welt lässt Rojava mit den IS-Gefangenen im Stich
Xalid Îbrahîm vom Büro für Außenbeziehungen der DAANES kritisiert die Weltgemeinschaft dafür, dass sie die Region mit den internationalen IS-Gefangenen alleinlässt.
Weiterhin gilt das Internierungslager al-Hol als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Zehntausende Angehörige von IS-Dschihadisten sind dort interniert. Im internationalen Bereich befinden sich Tausende Familienmitglieder von IS-Dschihadisten aus aller Welt. Doch die Herkunftsstaaten verzögern oder verweigern die Rücknahme ihrer Staatsbürger:innen und deren Kinder. Im ANF-Gespräch äußerte sich Xalid Îbrahîm vom Büro für Außenbeziehungen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) zu den aktuellen Entwicklungen in diesem Zusammenhang.
„Das Camp Hol ist eine Bombe, die jederzeit explodieren kann“
„Vor allem die Menschen dieser Region haben einen großen Kampf geführt, um die Bedrohung durch den IS-Terror für die Welt zu beenden. Im Jahr 2019 wurde die Territorialherrschaft des IS in dieser Region beseitigt. Doch der IS existiert weiter, sowohl organisatorisch als auch ideell und als Mentalität“, erklärte Îbrahîm und wies darauf hin, dass die Überreste des IS sich seit 2019 in klandestinen Zellen organisiert haben. In den Gefängnissen befänden sich Tausende von IS-Mitgliedern und auch in den Lagern Hol und Roj Tausende weitere IS-Frauen und Angehörige.
Îbrahîm sagte weiter: „Wir wissen, dass diese Verbrecher in den Gefängnissen die radikalsten und gefährlichsten Elemente des IS sind. Auch das Camp Hol ist eine Bombe, die jederzeit explodieren kann. Die Personen in diesem Lager setzen täglich ihre Organisierungsarbeit und ihre sonstigen Aktivitäten fort. Die Selbstverwaltung hat mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Schwierigkeiten, das Lager vollständig zu kontrollieren und seine Sicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig ist die Versorgung der Menschen im Lager schwierig. Aus diesem Grund unterstreicht die Selbstverwaltung, dass die Verantwortung für diese Situation nicht nur bei ihr, sondern auch bei der internationalen Gemeinschaft liegt und die notwendigen Maßnahmen gemeinsam ergriffen werden müssen. Die Verantwortung liegt wirklich in erster Linie bei der internationalen Gemeinschaft. Die Selbstverwaltung hat ihren Teil getan und tut das noch immer. Aus diesem Grund wiederholen wir als Selbstverwaltung ständig, die IS-Frage muss als eine Frage des internationalen Terrors betrachtet und entsprechend bewertet werden.“
„Alleinige Rückführung bringt keine Lösung und keine Gerechtigkeit“
Manche Länder wollten zumindest Verantwortung für ihre Staatsangehörigen übernehmen, sagte Îbrahîm und führte aus: „Die Selbstverwaltung stellt dafür alle notwendige und mögliche Unterstützung zur Verfügung. Allerdings bringt dies auch einige Schwierigkeiten für uns mit sich. Da ist zum einen der Sicherheitsaspekt, zum anderen der Aspekt der Identität. Wie bekannt ist, befinden sich in den Lagern Hol und Roj Staatsangehörige aus etwa 50 Ländern. Wir haben das Problem, sie zu identifizieren. Die Zahl der Kinder ist sehr hoch, und diese Kinder haben viele Identitäten. Wir haben Schwierigkeiten, sie auf der Grundlage von Dokumenten zu identifizieren, und es entstehen Sicherheitsprobleme. All das sind Probleme für uns. Deshalb ist die Selbstverwaltung ständig darum bemüht, eine generelle Lösung zu finden. Es reicht nicht aus, sie einfach nach Hause zu schicken. So wie für den Krieg gegen den IS eine internationale Koalition gegründet wurde, muss auch für dieses Problem eine internationale Lösung geschaffen werden. Nur so können die Probleme durch die Überbleibsel des IS gelöst werden. Und nicht nur das. Tausende Menschen haben in Nord- und Ostsyrien ihr Leben verloren. Die Bevölkerung will ihre Rechte für die Opfer, die sie gebracht hat. Tausende Menschen wurden vom IS massakriert, mehr als 12.000 Menschen sind hier gefallen. Es gibt 25.000 Kriegsversehrte. Tausende von Kindern wurden zu Waisen. All das sind Probleme, die von der Selbstverwaltung gelöst werden müssen. In diesem Sinne ist die alleinige Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimatländer kein Ansatz, um das Problem vollständig zu lösen. Die Selbstverwaltung hat von Anfang an wiederholt darauf hingewiesen, dass ein Gericht eingerichtet werden sollte, vor das diese Personen gestellt werden sollten. Es ist ohnehin indiskutabel, sie nicht vor Gericht zu stellen. Wenn diese IS-Mitglieder trotz der von ihnen begangenen Verbrechen nicht vor Gericht gestellt werden, dann können wir nicht von der vollständigen Auslöschung des IS sprechen. Sie müssen ein faires und offenes Verfahren auf internationaler Ebene erhalten. Solange die Rechte der Menschen, die unter den Angriffen des IS gelitten haben, die Opfer gebracht und Verluste erlitten haben, nicht geltend gemacht werden, werden die Probleme wachsen und die Krise wird sich von Tag zu Tag verschärfen.“
„Die Herkunftsstaaten wollen nur die Kinder“
Îbrahîm kritisierte, dass die Herkunftsstaaten ihre eigenen Staatsangehörigen nicht zurück wollten, sondern wenn, dann nur die Kinder. Das sei für die Selbstverwaltung absolut inakzeptabel. „Letztes Jahr haben etwa 15 Staaten um Hilfe bei der Rückführung ihrer Staatsangehörigen gebeten und diese wurden mit unserer Unterstützung in ihre Heimatländer geschickt. Dieses Jahr haben vier bis fünf weitere Staaten angefragt. Sie wollen vor allem Kinder und verfolgen ihre eigene Politik. Wir sagen jedoch, dass wir Mütter und Kinder nicht voneinander trennen werden. Wir akzeptieren auf keinen Fall, dass nur Kinder aufgenommen werden. Wir unterstützen voll und ganz die Rückführung derjenigen, die nicht an IS-Aktivitäten und die nicht an Verbrechen oder an Massakern beteiligt waren. Bei der Übergabe von Kindern akzeptieren wir nicht, dass sie von ihren Müttern getrennt werden, außer in bestimmten humanitären Situationen. Wenn sie Waisen oder krank sind, können sie in ihren Heimatländern behandelt werden. In diesen Fällen geben wir die Kinder ab. Aber in anderen Situationen akzeptieren wir so etwas nicht. Einige Länder erklären, dass sie nur Kinder aufnehmen können. Das ist für uns eine schwierige Situation, die wir nicht akzeptieren können.
Darüber hinaus sind viele irakische Staatsangehörige aufgrund des Krieges nach Rojava geflüchtet und die meisten von ihnen leben im Camp Hol. Diese Situation ist an sich schon ein Problem. Denn ein großer Teil von ihnen will nicht zurückkehren. Nicht nur Irakerinnen und Iraker, sondern auch Personen aus anderen Ländern wollen nicht zurückkehren. Sie haben immer noch die IS-Mentalität in ihren Köpfen und glauben, dass der IS eines Tages zurückkehren und seine Herrschaft wieder etablieren wird.“
„Die mangelnde Lösung der IS-Frage erschwert Lösung der Syrienkrise“
Xalid Îbrahîm sagte, dass insbesondere die Angriffe der Türkei und die damit einhergehenden Versuche, Konflikte in der ostsyrischen Region Deir ez-Zor Chaos zu schüren, eine große Gefahr darstellten. Im Camp Hol befänden sich nicht nur Personen aus aller Welt, sondern auch syrische Staatsangehörige, die aus Gebieten unter Regimekontrolle geflohen oder der Selbstverwaltung geflohen seien, insbesondere da sie dem IS nahestanden. Man sei um eine Rückkehr bemüht, jedoch gestalte sich diese aufgrund der Aktivitäten der Regionalmächte und des IS als schwierig: „Einige sind vor Krieg und Unterdrückung geflohen. Manche sind aus den türkisch besetzten Gebieten gekommen. Außerdem gibt es Menschen, die wegen des Krieges gegen den IS aus den selbstverwalteten Regionen gekommen sind. Zum Beispiel gibt es viele Familien aus Deir ez-Zor. Darüber gab es breite Diskussionen. Die Menschen dieser Region und insbesondere die Stämme haben viele Forderungen gestellt. Viele Stammesführer aus dieser Region forderten von der Selbstverwaltung, dass diese Menschen auf ihr Land zurückkehren. Einige Familien haben Reue zum Ausdruck gebracht, einige hatten sich getrennt und wollen nun zu ihren Familien zurückkehren. Bei einigen handelt es sich um Frauen und Kinder. Aus all diesen Gründen hat die Selbstverwaltung für die Rückkehr dieser Menschen gesorgt, indem sie die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und Lebensbedingungen geschaffen hat, um zu verhindern, dass sie in das Umfeld dieser terroristischen Organisationen zurückkehren. Natürlich gibt es noch einige Risiken und Probleme in der Region Deir ez-Zor. Sowohl der IS als auch Regionalmächte versuchen, in diesem Gebiet Chaos zu stiften. Von Zeit zu Zeit kommt es zu Zusammenstößen. In diesem Gebiet gibt es nur partiell Sicherheit. Es besteht daher die Möglichkeit, dass die Rückkehr manchmal gefährlich sein kann. Es wurden jedoch einige Institutionen damit beauftragt, dies zu überwachen. Denn sowohl die Gesellschaft als auch die zurückkehrenden Familien haben Bedenken. Von Zeit zu Zeit gibt es Angriffe von IS-Zellen auf diese Gebiete. Die Angriffe und Drohungen des türkischen Staates gegen Rojava ermutigen den IS natürlich und schaffen neue Möglichkeit für ihn, sich wieder als internationale terroristische Bedrohung zu organisieren.
„Internationaler Ansatz notwendig“
Die Angriffe des IS auf Nord- und Ostsyrien nehmen von Tag zu Tag zu. Sie haben Schläferzellen. Die Unterstützung durch die internationale Koalition gegen den IS dauert weiter an und die Kräfte der inneren Sicherheit und die militärischen Einheiten sind in permanenter Bewegung. Aber dennoch versuchen sich diese Zellen, immer weiter zu organisieren. Aus diesem Grund sagen wir als Selbstverwaltung immer wieder, dass diese Krise, das Problem des internationalen Terrorismus, nicht allein von uns gelöst werden kann, sondern dass alle ihren Teil dazu beitragen müssen, seien es internationale Institutionen, humanitäre und juristische Institutionen, sie alle müssen sich mit dieser Situation befassen. Nur so kann dieses Problem als Projekt angegangen werden, sowohl in Hinblick auf die Gewährleistung der Rechte der Opfer des IS-Krieges als auch in Bezug auf die Sicherheit im militärische, politischen und infrastrukturellen Bereich. Dies sollte gemeinsam mit der Selbstverwaltung und der internationalen Gemeinschaft angegangen werden. Nur so kann das Problem des Terrors, das einer Lösung der Syrienkrise heute im Wege steht, angegangen werden. Und wenn dieses Problem nicht in all seinen Aspekten behandelt und gelöst wird, wird es nicht möglich sein, die Syrienkrise im Allgemeinen zu lösen.
„Dem IS muss die Grundlage entzogen werden“
Die Menschen aus Deir ez-Zor sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie sind das Volk dieses Landes. In diesem Sinne werden sie nicht einfach ausgeliefert, sondern sie kehren an ihre eigenen Orte zurück. Mit anderen Worten, es sollte als Rückkehr betrachtet werden. Nun blieben sie eine Zeit lang im Lager Hol. Es wurden die notwendigen Untersuchungen und Feststellungen getroffen. Diejenigen, die nicht in Straftaten verwickelt sind, die keine Vorstrafen haben, sollen mit Hilfe der Institutionen in der Region und mit Hilfe der Stammesführer in der Region wieder integriert und zu ihren Familien zurückgeführt werden. Einige Familien fordern diese Rückkehr, und andere wollen nicht zurückkehren. Deshalb sagen wir, dass dies ein internationales Problem ist. Da es sich um die Überreste des IS handelt, ist das Problem mit den Personen, die immer noch eine IS-Einstellung haben, ein internationales Problem. In diesem Sinne muss die internationale Gemeinschaft nun versuchen, dieses Problem grundsätzlich zu lösen. Es handelt sich nicht um ein Problem, das nur auf der militärischen und sicherheitspolitischen Ebene gelöst werden kann. Wir müssen jetzt genau verstehen, wie der IS entstanden ist und wie er sich entwickelt hat. Nun, es gab einen Grund für diese Entwicklung. Es gab einen Grund, der dem IS diese Bedingungen bot, und dieser Grund muss beseitigt werden. An einigen Orten gibt es noch immer die Möglichkeit, dass sich der IS reorganisiert und wieder auflebt. Deir ez-Zor in Nord- und Ostsyrien ist eines dieser Gebiete. Es gibt Versuche, in der Region Chaos zu stiften, sowohl von regionalen Kräften als auch von verschiedenen Gruppen, die die Selbstverwaltung liquidieren wollen. In diesem Sinne sollten sowohl die internationale Koalition als auch die internationale Gemeinschaft ihre Verantwortlichkeiten in dieser Hinsicht klären und übernehmen.
„Es muss Gerechtigkeit für die Opfer geben“
Es gibt Familien, die ihre Kinder im Krieg gegen den IS verloren haben, und einige Familien wurden durch diesen Krieg gegeneinander aufgebracht. Deshalb kommt es langsam zu Reaktionen der Menschen in Nord- und Ostsyrien, insbesondere von Menschen, die ihre Kinder in diesem Krieg verloren haben, gegen die Familien, die ins Ausland zurückgeführt werden oder die in ihre Heimatorte zurückkehren. Denn viele Familien wollen nicht, dass das ‚Blut ihrer Kinder‘ unvergolten bleibt und fordern Gerechtigkeit. Sie wollen, dass diejenigen, die ausgeliefert wurden oder zurückgekehrt sind, vor Gericht gestellt werden. Die autonome Verwaltung sucht daher gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft nach einer Lösung für dieses Problem.“
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