Positionierung der kurdischen Freiheitsbewegung nach den Wahlen in der Türkei
Die Kommunalwahlen in der Türkei haben die politische und gesellschaftliche Landschaft verändert und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Lösung der aktuellen Probleme geschaffen. Die CHP muss diese Chance nutzen.
Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) sieht nach den Kommunalwahlen am 31. März 2024 in der Türkei und Nordkurdistan eine historische Chance für die demokratische Opposition. „Es ist eine demokratische Atmosphäre entstanden, und wir betrachten das sich entwickelnde politische Klima im laufenden Prozess als entscheidend für das kurdische Volk, die revolutionären demokratischen Kräfte und die Gesellschaft in der Türkei“, heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme der Ko-Vorsitzenden des KCK-Exekutivrats:
„Die Kommunalwahlen in der Türkei haben die politische und gesellschaftliche Landschaft verändert und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Lösung der aktuellen Probleme geschaffen. Den politischen Kräften in der Türkei bietet sich eine große Chance und Möglichkeit. Als kurdische Freiheitsbewegung erklären wir, dass unser eigener Ansatz auf der Nutzung dieser Chance beruhen wird. In diesem Zusammenhang halten wir es für notwendig, einige unserer Gedanken und Erwartungen darzulegen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Wahlen in einem antidemokratischen Umfeld stattgefunden haben. Der Staat bediente sich aller möglichen Methoden, Manipulationen und Betrügereien, insbesondere in Kurdistan, um die Interessen der Regierung zu schützen. Darüber hinaus wurden Soldaten, Polizisten und paramilitärische Kräfte aus dem ganzen Land in kurdische Städte transportiert, um dort ihre Stimmen für die AKP und die MHP abzugeben und das Gesamtergebnis zu beeinflussen. Der Staat hat nicht einmal versucht, dies zu verbergen. Auf diese Weise wurden viele Städte und Gemeinden in Kurdistan in Beschlag genommen und der Wille des Volkes usurpiert. Hinzu kam, dass über den Obersten Wahlrat (YSK) versucht wurde, die in Kurdistan und später auch in der Türkei gewonnenen Großstädte zu beschlagnahmen. Das konnte wie in Wan durch die Initiative und den Widerstand der Bevölkerung und die Solidarität der demokratischen Öffentlichkeit in der Türkei verhindert werden. Die Wahlergebnisse zeigen, dass das Bündnis aus AKP, MHP, PDK und Hizbulkontra trotz aller Betrügereien in Kurdistan keine Stimmen von den Menschen bekommen und keine einzige Gemeinde gewinnen konnten. Die von diesem Bündnis übernommenen Gemeinden sind usurpiert worden.
Bis zum heutigen Tag hat die Regierung in der Türkei zu allen möglichen schmutzigen Methoden und Tricks gegriffen und über die Feindschaft den Kurdinnen und Kurden gegenüber Rassismus, Nationalismus, Sektierertum, Sexismus und alle Arten reaktionären Verhalten verbreitet. Infolgedessen wurde auch die Gesellschaft der Türkei unterdrückt. Trotzdem hat die AKP eine große Niederlage erlitten. Dadurch hat sich gezeigt, wie tief die AKP tatsächlich inzwischen gefallen ist. Sie wurde nicht nur verwundet, sondern hat sich in eine politische Leiche verwandelt.
Das wichtigste Ergebnis der Wahl ist zweifellos die Niederlage der AKP, die der Gesellschaft im letzten Vierteljahrhundert großes Unheil zugefügt hat. Die Legitimität der AKP und der Regierung von Tayyip Erdogan ist nach zweiundzwanzig Jahren erodiert. Während sie bei ihrem Amtsantritt Demokratie und Freiheiten versprochen hatten, verfolgten sie das Gegenteil. Sie versprachen, die kurdische Frage zu lösen, was ihnen nicht gelang. Stattdessen wurden sie den Kurdinnen und Kurden gegenüber noch feindseliger als ihre Vorgänger und führten die Türkei in eine Katastrophe.
Unter der 22-jährigen Herrschaft der AKP und Tayyip Erdoğan hat sich die Türkei in ein totales Wrack verwandelt. Rückständigkeit, Unmoral, Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit haben ein extremes Ausmaß erreicht. Alle Ressourcen, Schätze und die Produktion des Landes wurden für den Wohlstand einiger weniger missbraucht, während die Gesellschaft in Hunger, Armut und Elend gestürzt wurde. Damit sich die Gesellschaft mit dieser Situation abfindet, wurde Feindschaft gegen die Kurdinnen und Kurden geschürt und ein intensiver Spezialkrieg gegen die Gesellschaft geführt. Der Staat und die Gesellschaft wurden mit Spezialkriegsmethoden beherrscht. Die Methoden, für die sich die AKP-Regierung bei den Wahlen entschieden hat, zeigen, wie degeneriert sie geworden ist und dass sie der Gesellschaft und der Menschheit nichts mehr zu geben hat. Dass die AKP und Tayyip Erdogan in diesem Staat die Macht ergriffen und der Gesellschaft so viel Böses angetan haben, ist das Ergebnis einer Mentalität, die auf Feindschaft gegenüber den Kurdinnen und Kurden beruht und in der Feindschaft gegen die freie Moral der Gesellschaft, die menschlichen Werte, die Freiheit und die Demokratie wurzelt. Die Kommunalwahlen vom 31. März haben dieser Situation ein Ende gesetzt, den Einfluss der AKP eingeschränkt und sie zur zweitstärksten Partei degradiert.
Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass die AKP und Tayyip Erdogan bei Wahlen einen Rückschlag erleiden. Bereits bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 verlor die AKP angesichts des geschaffenen Umfelds und der von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] vorgelegten Strategien für die Entwicklung der demokratischen Kräfte die Macht. Die Gesellschaft übertrug den demokratischen Kräften und der Opposition unter dem Dach der HDP die Aufgabe und Verantwortung, Regierungspartner in der Türkei zu werden. Tayyip Erdogan verhinderte jedoch die weitere Entwicklung dieses Demokratisierungsprozesses, indem er ein Bündnis mit der faschistischen und rassistischen MHP und Devlet Bahçeli einging. Weil die Opposition und ihre demokratische Politik zu schwach war, wurde ein Militärputsch inszeniert. Seitdem befindet sich die Türkei in den Händen einer Regierung, die durch den Putsch gebildet wurde. Dieser Prozess, der jedes Mal, wenn er erwähnt wird, im Detail erklärt werden muss, hat dem Land und der Gesellschaft viel Leid gebracht und Leben, Zeit und Energie gekostet. Erst jetzt ist diese Putschregierung gestoppt worden. Damit bietet sich die Gelegenheit, das abzuschließen, was vor neun Jahren unvollendet geblieben ist.
Die Haltung des kurdischen Volkes und der Kampf in Kurdistan waren der entscheidende Faktor für die Niederlage des Faschismus. Die entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung spielte das kurdische Volk mit dem von der Freiheitsbewegung geführten Kampf und der von ihr entwickelten Strategie. Von Anfang an haben das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte klar und ununterbrochen gegen den Putsch der faschistischen AKP/MHP gestanden. Sie haben Widerstand geleistet und gekämpft. An der Spitze dieses Widerstands stand immer Rêber Apo im Gefängnis auf der Insel Imrali. Auch die kurdische Freiheitsguerilla leistete Widerstand, Tausende unserer inhaftierten Genossinnen und Genossen in den türkischen Gefängnissen leisteten Widerstand, kurdische Frauen und Jugendliche leisteten Widerstand gegen die faschistische Unterdrückung und die besondere Kriegsführung. Das kurdische Volk hat nicht nur im Norden, sondern in allen vier Teilen Kurdistans und in der Diaspora einen großen Widerstand geleistet. Unter allen Umständen hat es seinen Freiheitswillen verteidigt und den Faschismus in Kurdistan nicht durchgelassen.
Bei den Kommunalwahlen hat das kurdische Volk seine Haltung deutlich unter Beweis gestellt und gezeigt, dass es auf einem freien Leben und einer Demokratisierung der Türkei beharrt. Diese Haltung und der Kampf des kurdischen Volkes, der demokratischen Kräfte der Türkei und der kurdischen Freiheitsbewegung haben zur Niederlage des Faschismus geführt. Die Beharrlichkeit des kurdischen Volkes muss gesehen und verstanden werden, damit ein positives Ergebnis erzielt werden kann und der Prozess demokratisch verläuft. Zweifelsohne hat das kurdische Volk diesen Kampf gemeinsam mit den Völkern der Türkei und ihren demokratischen Kräften geführt. Es waren die Strategie der Koexistenz und der darauf basierende Widerstand, die das Ende des Faschismus eingeläutet haben.
Der Erfolg und die erzielten Ergebnisse gegen den Faschismus haben die Verantwortung der demokratischen Kräfte als Dynamik und Subjekt des Kampfes erhöht. Vor uns liegt die Aufgabe, diese Ergebnisse organisiert in die Praxis umzusetzen, sie im Volk zu integrieren und die Demokratie der Türkei auf der Freiheit des kurdischen Volkes aufzubauen. Dafür müssen die demokratischen Kräfte sorgen, sie stehen vor einer historische Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Sie müssen sich stärker zusammenschließen und einen intensiveren antifaschistischen und demokratischen Kampf führen. Das kurdische Volk muss auf seinen Forderungen nach Freiheit und Demokratisierung der Türkei bestehen. Zugleich müssen die demokratischen Kräfte diesen Kampf unterstützen und anführen.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Kommunalwahlen vom 31. März ist, dass die CHP nach fünfzig Jahren wieder den Status der stärksten Partei erlangt hat. Die CHP ist von der Gesellschaft mit der Führung der Türkei beauftragt worden. Daher sind die künftige Denkweise und Strategie der CHP von entscheidender Bedeutung. Sie muss die Wahlergebnisse richtig bewerten. Es ist klar, dass die Gesellschaft der Türkei von der CHP verantwortungsvolles Handeln erwartet. Wir sehen diese Situation und messen ihr große Bedeutung bei.
Was die richtige Herangehensweise angeht, so muss die CHP zunächst einmal verstehen, wie es zu diesen Wahlergebnissen gekommen ist. Sie muss die Rolle des kurdischen Volkes, der Bevölkerung insgesamt und der revolutionären demokratischen Bewegung der Türkei im Kampf gegen den Faschismus anerkennen. Das Grundbedürfnis und die Grunderwartung der Gesellschaft ist die Demokratie. Als die Partei, die die Republik gegründet hat, hat die CHP eine weitere Chance, sie zu demokratisieren. Die CHP wird in dieser Hinsicht von der Gesellschaft unterstützt. Wenn die CHP wieder an Stärke gewinnen will, muss sie diese Gelegenheit richtig nutzen, um die 1973 verpasste Chance wieder zu ergreifen.
Die Gesellschaft der Türkei unterstützte die CHP 1973 und übertrug ihr die Verantwortung, eine entscheidende Rolle zu spielen. Unter der Führung von Bülent Ecevit konnte die CHP jedoch ihr starres nationalstaatliches Denken, Nationalismus und Chauvinismus nicht überwinden. Es gelang ihr nicht, den Willen zur Lösung der kurdischen Frage zu zeigen. Sie entwickelte kein demokratisches Programm und unternahm nicht die notwendigen demokratischen Schritte. Dadurch hat sie die Unterstützung der Gesellschaft verloren und eine historische Chance vertan. Jetzt hat die Gesellschaft der CHP eine zweite Chance gegeben. Wenn die CHP diese Chance ergreift, sich für die Demokratisierung der Republik einsetzt, Schritte in diese Richtung unternimmt und diesen Willen demonstriert, wird sie die notwendige Unterstützung der Gesellschaft und der demokratischen Kräfte erhalten. Die Gesellschaft wird das sehen und die CHP unterstützen. Auch wir würden Schritte zur Demokratisierung unterstützen. Wenn die CHP diese Haltung jedoch nicht annimmt und keine demokratischen Schritte einleitet, wird sie die Unterstützung der Gesellschaft verlieren. Sie wird in dieselbe Situation geraten wie die AKP. Die Unterstützung der Gesellschaft für die AKP folgte der Erwartung, dass sie die Demokratisierung vorantreibt. Das hat sie nicht getan und deshalb die gesellschaftliche Unterstützung verloren.
Bei den Wahlen am 7. Juni 2015 hat die Gesellschaft diese Haltung deutlich gezeigt. Seitdem hat sich die AKP ausschließlich durch Putsche an der Macht gehalten. Indem sie keine Schritte zur Demokratisierung und zur Lösung der kurdischen Frage unternommen und stattdessen auf Rassismus, Nationalismus, Faschismus und Krieg gesetzt hat, hat die AKP die Türkei an den Rand des Untergangs gebracht und ihr eigenes Grab geschaufelt. Jetzt will die Gesellschaft in der Türkei ein Ende dieser Situation, sie will eine Lösung. Am 31. März wurde diese Haltung deutlich demonstriert. Die CHP sollte dies als eine historische Chance sehen, und um diese Chance richtig zu nutzen und mehr Unterstützung in der Gesellschaft zu gewinnen, sollte sie ohne Zeitverlust ein demokratisches Programm vorlegen. Sie muss ihren Plan und ihr Programm zur Demokratisierung der Republik vorlegen, indem sie demokratische Schritte unternimmt. Die CHP sollte erkennen, dass die Quelle aller Probleme in der Türkei das Versagen der Demokratie ist. Sie muss zeigen, dass sie die Macht und den Willen hat, dem ein Ende zu setzen. Dazu muss sie sich zuallererst auf die Lösung der kurdischen Frage konzentrieren, dem grundlegendsten Problem des Landes und einem Nebenprodukt der Unfähigkeit der Republik, sich zu demokratisieren. Ohne eine Lösung der kurdischen Frage kann die Republik nicht demokratisch werden und aus ihrer derzeitigen Krise herauskommen.
Wenn die CHP ein Demokratisierungsprogramm vorlegt und die notwendigen Schritte in diesen grundlegenden Fragen unternimmt, wird sie die notwendige Unterstützung der Gesellschaft erhalten. Mit dieser Unterstützung wird sie die Chance haben, die Demokratisierung zu verwirklichen, die die Türkei braucht. Zweifelsohne erfordert eine Demokratisierung viel Arbeit und viele Schritte. Sie kann jedoch nicht ewig aufgeschoben werden. Der Wille dazu muss so schnell wie möglich geäußert werden, und es müssen grundlegende Schritte unternommen werden. Als demokratische Kräfte Kurdistans und der Türkei werden wir jeden richtigen Schritt unterstützen. Unsere Position in dieser Angelegenheit basiert auf der historischen Verantwortung, die wir gegenüber der Gesellschaft und der Demokratisierung der Türkei empfinden.
Foto: Newroz 2024 in Qendîl
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