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Salih Muslim warnt vor Ignoranz der IS-Türkei-Beziehung

 


Salih Muslim warnt: „Die Beziehungen zwischen dem IS und der Türkei einfach laufen zu lassen, ist ein Spiel mit dem Feuer. Man weiß nie, wo das Feuer auflodern wird. Deshalb muss die Türkei in ihre Schranken gewiesen werden.“

Mit den türkischen Angriffen auf Nord- und Ostsyrien ist auch der IS aktiver geworden. Im ANF-Interview äußert sich der Ko-Vorsitzende der PYD, Salih Muslim, zu den Entwicklungen.


Angesichts der zunehmend eskalierenden Konflikte und Kriegslage im Nahen Osten erscheint auch der IS wieder auf der Tagesordnung. Der IS hat zuletzt die Verantwortung für den verheerenden Anschlag im Iran übernommen. Wie bewerten Sie das?

Die Staaten nutzen den IS als Instrument für ihre eigenen Interessen. Aber eines der Länder, das den IS am intensivsten benutzt, ist die Türkei. Die Türkei hat den IS permanent für ihre eigenen Zwecke und zur Vernichtung des kurdischen Volkes eingespannt. In dieser Absicht hat sie den IS auf Kurdistan losgelassen. Sie hat den IS auf das kurdische Volk in Şengal, Mexmûr, Hewlêr und Kobanê gehetzt. Das Rückgrat des IS wurde in Kobanê gebrochen und seine Herrschaft endete in Deir ez-Zor, aber bis heute existiert die Terrormiliz weiter. Die IS-Ideologie lässt sich nicht einfach zerstören. Er wird mobilisiert, wenn es für nötig erachtet wird. Schon zu Beginn des Aufbaus der Organisation hat die Türkei ihre eigenen Männer im IS platziert. Einer von ihnen war Abu Muslim al-Turkmani1. Er stammte aus Tell Afar und war Baghdadis Stellvertreter.

Die Türkei benutzte den IS für alle Aufgaben. Sie nutzte ihn in Şengal, Rojava und Syrien. Das anschaulichste Beispiel dafür war die Umwandlung des türkischen Konsulats in Mosul in das IS-Hauptquartier. Bis heute hat die Türkei ihre Beziehungen zum IS nicht beendet. Natürlich bringt die Türkei dies nicht offen zum Ausdruck. Sie behauptet, dass sie gegen den IS kämpfe, aber das ist nicht wahr. Die Türkei hat definitiv bei den jüngsten Anschlägen im Iran ihre Finger im Spiel. Sie setzt den IS gegen das kurdische Volk in der Türkei ein und organisiert ihn weiterhin in Rojava. Das geht aus den Geständnissen gefangener IS-Mitglieder hervor. Bei dem Angriff auf das Sinaa-Gefängnis in Hesekê vor zwei Jahren wurde die Beziehung zwischen dem IS und der Türkei genau dokumentiert. Es ist bekannt, von wo aus sie losgegangen und wie sie an militärische Ausrüstung gekommen sind. Der türkische Geheimdienst war direkt beteiligt. Die Türkei ist ein Land, das den IS unterstützt, ihn nährt und für seine eigenen Zwecke nutzt. Solange die Türkei den IS unterstützt, wird die von ihm ausgehende Gefahr nicht verschwinden.

In einigen Analysen heißt es, dass der IS eine neue Organisation mit Sitz in der Türkei gegründet und die Region Chorasan2 organisiert hat. Wie schätzen Sie dies ein?

Um den IS zu stärken und weiter zu verbreiten, brauchen sie ein Volk, das den Islam nicht kennt und jedes Wort, das über den Islam gesagt wird, glauben kann. Auch dafür ist die Region Chorasan geeignet. Viele der IS-Mitglieder, die nach Rojava kamen, stammten aus Ländern wie Tadschikistan, Kasachstan und Afghanistan. Es zeigt sich also, dass die Türkei Pläne für Zentralasien hat. Diese Pläne basieren auf einer Öffnung gegenüber Zentralasien und einer Expansion der Einflusssphäre. Die Türkei versucht, in dieser Region Chaos zu stiften, indem sie dort den IS unterstützt. Man kann vom IS in Chorasan sprechen, aber eigentlich wird er von der Türkei unterstützt.

Der IS ist im Nahen und Mittleren Osten in letzter aktiver geworden. Wie ist das zu bewerten?

Es ist nicht möglich, dass Frieden und Stabilität an einem Ort existiert, über dem der Schatten des IS liegt. Der IS schafft Chaos und Krisen. Es gibt immer mehr Tote und der Krieg vertieft sich. Wo immer der IS Fuß fasst, setzt eine Rückwärtsentwicklung ein. Die erneute Aktivierung des IS im Nahen und Mittleren Osten ist gefährlich. Das deutet darauf hin, dass die dunklen Tage noch länger andauern werden. Die Türkei erpresst auch die europäischen Staaten, indem sie den IS für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert. Die Präsenz des IS in einem Land, insbesondere eines Landes im Nahen Osten, stellt nicht nur eine Gefahr für die Menschen der Region, sondern für die ganze Welt dar. In unserem Kampf gegen den IS haben wir der internationalen Koalition immer wieder gesagt und tun dies auch heute noch: „Wenn ihr die Gefahr durch den IS beenden wollt, müsst ihr diejenigen aufhalten, die den IS unterstützen, ihr müsst diejenigen stoppen, die den IS mit Waffen, finanzieller Unterstützung und Ausbildung versorgen.“ Diese Kräfte verfolgen jedoch auch ihre eigenen Interessen und drücken gegenüber der Türkei beide Augen zu, obwohl sie wissen3, dass es die Türkei ist, die den IS unterstützt.

Von welchen Kräften sprechen Sie, wenn Sie sagen, sie verschlössen die Augen vor der Unterstützung für den IS durch die Türkei?

Die europäischen Staaten, Russland und die USA wissen, dass die Türkei den IS unterstützt und direkt fördert. Selbst die Aussagen von IS-Mitgliedern, die in diesen Ländern verhaftet wurden, genügten dafür. Die IS-Mitglieder sagten aus, wie sie von der Türkei nach Rojava gekommen seien und welche Verbindungen sie zur Türkei haben. Dennoch schweigen diese Staaten gegenüber der Türkei. Dieses Schweigen belegt die Intensität der auf Interessenspolitik basierenden Beziehungen. Man verschließt die Augen, weil man wirtschaftliche Interessen verfolgt. Allenfalls wurden der Türkei Bedingungen gestellt, wie zum Beispiel, dass der IS nicht in ihre Länder kommen soll, dass sie ihn kontrollieren soll, dass er dafür aber Kurden und Armenier oder wen auch immer abschlachten darf.

Es hat den Anschein, dass verschiedene Länder ein Interesse an den Beziehungen zwischen der Türkei und dem IS haben. Die Türkei nutzt den IS ohnehin im Einklang mit ihren eigenen Interessen. Die vom türkischen Staat in Kurdistan gegründete Partei Hüda Par ist Teil dieses Komplexes. Die Hüda Par ist der IS der Kurden. Überall, wo der Schatten der Türkei hinfällt, gibt es auch IS-Banden. Auch Südkurdistan ist voll von IS-Mitgliedern. Wenn die irakische Regierung an Orten, an denen die Türkei präsent ist, eine Recherche durchführen würde, würde sich herausstellen, dass die meisten Leute dort zum IS gehören. Es gibt eine organische Beziehung zwischen der Türkei und dem IS. Den Beziehungen zwischen dem IS und der Türkei ihren Lauf zu lassen, ist ein Spiel mit dem Feuer. Es ist nicht klar, wann und wo das Feuer aufflammen wird. Die Türkei muss in die Schranken gewiesen werden.

Wie wirkt sich die Zunahme der türkischen Angriffe auf die Aktivitäten des IS in Nord- und Ostsyrien aus?

Die Angriffe erfolgen mit der Intention, Rache für die Zerschlagung des IS zu nehmen. Als Minbic 2016 befreit wurde, haben die Türkei und der IS in Cerablus ein Abkommen geschlossen. Raqqa wurde befreit, daraufhin marschierte die Türkei mit Dschihadisten in Efrîn ein. Es wurde eins gegen das andere getauscht. Der türkische Staat wollte sich immer für die Niederlage des IS rächen. Auch die Angriffe auf das Sinaa-Gefängnis in Hesekê im Jahr 2022 wurden vom türkischen Staat geplant. Er bildete die Angreifer aus, gab ihnen militärische Ausrüstung und organisierte sie, damit sie die Kontrolle in Hesekê übernehmen und die Besatzung ausgeweitet werden kann. Das haben die Ermittlungen eindeutig ergeben. Betrachtet man die bisherigen Angriffe des türkischen Staates auf die Region, so wird jedes Gefängnis, in dem IS-Mitglieder inhaftiert sind, angegriffen und bombardiert. Der türkische Staat führt diese Angriffe durch, um IS-Mitgliedern die Flucht zu ermöglichen. Er hat weitere Pläne, die er mit Hilfe des IS umsetzen will. Der IS und der türkische Staat haben die gleiche ideologische Perspektive, daher ist die Beziehung zwischen ihnen hochgefährlich.

Möchten Sie abschließend noch etwas sagen?

Der IS begeht Massaker und Völkermord. Die Türkei mag gegenüber einigen Staaten behaupten, dass sie den IS nur gegen Kurden einsetzt, aber das stimmt nicht. Es geht nicht nur um diese Frage. Der IS ist auch eine Gefahr für die Völker auf der ganzen Welt. Wenn die Türkei den IS erneut aktiviert, um ihre Ziele zu erreichen, so wird es damit auch wieder zu solchen Anschlägen wie in der Vergangenheit in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und dem Vereinigten Königreich kommen. Der IS ist wie ein Feuer. Unsere Hoffnung ist, dass alle diese Wahrheit erkennen und die schmutzigen Machenschaften der Türkei aufgehalten werden.


1 Abu Muslim al-Turkmani, getötet am 18. August 2015 bei Mosul.

2 Chorasan oder Khorasan ist eine Region in Zentralasien im Gebiet der heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Der Islamische Staat ist in der Region als ISPK aktiv. Der ISPK agiert auch international und wird unter anderem mit Anschlagsplänen auf den Kölner Dom in Verbindung gebracht. Seit dem frühen 15. Jahrhundert ist eine kurdische Besiedlung der Region nachgewiesen. Ein Großteil der kurdischen Bevölkerung soll ursprünglich aus Xurîstan in der Provinz Erzîrom stammen. Daher gibt es Vermutungen, dass sich Chorasan, Land der aufgehenden Sonne, ebenfalls aus dem Kurdischen ableitet.

3 Auf eine Anfrage der Linksfraktion hatte die deutsche Bundesregierung in einer Verschlusssache folgendes Statement abgegeben: „Als Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras hat sich die Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt.“ Die Anfrage zielte auf den IS-Terror in Syrien und die Hamas ab.

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