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Ezidische Verbände kritisieren „Charta der Versöhnung“

 


Die ezidischen Verbände NAV-YEK und SMJÊ kritisieren die „Charta der Versöhnung“, die am Donnerstag im nordrhein-westfälischen Landtag unterzeichnet werden soll. Das Projekt sei zweckentfremdet und von der PDK vereinnahmt worden.

Am Donnerstag findet im Landtag von Nordrhein-Westfalen die Abschlussveranstaltung des Projekts „Verarbeiten, Vergeben, Versöhnen“ der Kurdish European Society e.V. (KES) mit Unterzeichnung einer „Charta der Versöhnung zwischen Muslim:innen und Ezid:innen in Kurdistan, Europa und der Welt“ statt. Das Projekt wurde finanziert durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration und stößt in seiner Endfassung auf die Kritik ezidischer Organisationen.

Der Zentralverband der Êzîdischen Vereine in Deutschland (NAV-YÊK e.V.) und der Dachverband der Êzîdischen Frauenräte (SMJÊ e.V.) kritisieren mit weiteren Organisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme die offensichtliche Zweckentfremdung des Projekts durch die Einflussnahme der vom Barzanî-Clan dominierten „Demokratischen Partei Kurdistans“ (PDK) aus der Kurdistan-Region im Irak. „Vom Grundsatz her sind jegliche Versuche zu begrüßen, welche zum weltoffenen Zusammenleben und der objektiven Aufarbeitung der Geschichte beitragen“, betonen die ezidischen Vereine. Selbst wenn das Projekt vermutlich zu Beginn vom guten Willen einzelner Personen geprägt gewesen sei, werde jedoch im Endeffekt aus den bisherigen Entwicklungen und der ausgearbeiteten „Charta der Versöhnung“ eine parteipolitische Einflussnahme durch die PDK erkennbar.

Die Charta trägt die Handschrift der PDK“

„Es ist unstrittig, dass der durch den IS an unserer ezidischen Glaubensgemeinschaft verübte Völkermord unter der Mitverantwortung der zentralen Regierung des Iraks und der durch die PDK geprägten Regionalregierung in Kurdistan passiert ist“, erklären die ezidischen Verbände zu dem fluchtartigen Rückzug der irakischen Armee und der kurdischen PDK-Peschmerga aus dem ezidischen Kerngebiet Şengal (Sindschar) während des IS-Überfalls am 3. August 2014. Auch danach hätten sich weder Bagdad noch die südkurdische Regierung in Hewlêr (Erbil) für die ezidische Gemeinschaft eingesetzt, sondern vielmehr gegen sie gearbeitet. Die ezidischen Verbände kritisieren insbesondere, dass in der finalen Version der „Charta“ für die Umsetzung des umstrittenen Şengal-Abkommens plädiert wird:

„Wir haben immer wieder zur Kenntnis nehmen müssen, dass dieses vom Bundesland NRW unterstützte Projekt unter dem massiven Druck und der Einflussnahme der PDK steht. Dennoch hatten wir die Hoffnung, dass das Projekt letztendlich zu retten wäre und somit der Sache dienen könnte. Durch die Zusammensetzung der teilnehmenden Personen und die zuletzt überarbeitete Version der Charta, welche vollkommen die Handschrift der PDK trägt, manifestiert sich damit die vollkommene Zweckentfremdung und die parteipolitische Vereinnahmung des Projektes. Aufgrund dessen können und werden wir an der Konferenz am 18. Januar 2024 im Landtag von NRW nicht teilnehmen und dieses Projekt in dieser Form nicht unterstützen.

Weiterhin teilen wir jedoch mit, dass wir immer wieder offen sind für Projekte im Sinne der Eziden und der Region Şengal. Für uns ist die Förderung des Zusammenlebens ein wichtiger Bestandteil unserer gesellschaftlichen und politischen Arbeiten und Tätigkeiten, jedoch immer auf gleicher Augenhöhe und natürlich auf Grundlage der Aufarbeitung, einer aufrichtigen und ehrlichen Aufarbeitung, mit der klaren Nennung der Täter, der Mittäter sowie der Mitverantwortlichen des Völkermords vom 3. August 2014. Ohne eine solche Aufarbeitung ist eine Versöhnung nicht machbar und möglich“, heißt es in der Stellungnahme.

Sechs grundlegende Forderungen von Şengal für Şengal

Der Stellungnahme beigefügt sind die grundlegenden Forderungen der Organisationen Zentralverband der Êzîdischen Vereine in Deutschland (NAV-YÊK e.V.), Dachverband der Êzîdischen Frauenräte (SMJÊ e.V.), Partei der Êzîden für Demokratie und Freiheit (PADE Europa-Vertretung), Êzîdi Exil Council Sinjar (M.Ş.D e.V.), Bündnis der Êzidischen Jugend (HCÊ e.V.), - Êzîdisches Zentrum für Kunst und Kultur (NÇÊ e.V.), Bündnis der Êzîden Syriens (HÊS e.V.) und Dachverband der êzîdischen Dorfräte (SMGÊ):

1. Selbstverwaltung im Einklang mit der Verfassung

Der Irak hat eine Verfassung, die die Rechte und Freiheiten der im Lande lebenden Bevölkerungsgruppen garantiert. Gemäß den Artikeln 116, 117, 122 und 125 der geltenden Verfassung hat jede ethnische und religiöse Gruppe im Irak das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Die Ezid:innen haben nach dem Genozid vom 3. August 2014 eine eigene Selbstverwaltung aufgebaut, die anerkannt werden muss.

2. Der Völkermord muss offiziell anerkannt werden

Die ezidische Gemeinschaft ist ein wichtiger Bestandteil der irakischen Gesellschaft und ihre Verteidigung obliegt der irakischen Regierung. Der irakischen Regierung wurde kürzlich ein Resolutionsentwurf zum Völkermord vorgelegt. Über diesen Entwurf muss jetzt im Parlament abgestimmt werden. Nur wenn die irakische Regierung dieses Massaker an der irakischen Bevölkerung im Allgemeinen und an der Bevölkerung von Şengal im Besonderen offiziell anerkennt, können Stabilität, Frieden und Sicherheit in Şengal gewährleistet und eine ausländische Intervention verhindert werden.

3. Juristische Verfolgung der Täter

Das irakische Bundesgericht wird aufgefordert, diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die die politische, administrative und militärische Verantwortung für den Völkermord tragen. Das gilt insbesondere für die Entscheidungsträger der PDK („Demokratische Partei Kurdistans"), die mit dem Abzug der Peschmerga aus Şengal dem IS den Weg freigemacht haben. Die von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) angekündigten Prozesse gegen internierte IS-Mitglieder müssen von der irakischen Regierung und dem Bundesgericht unterstützt werden. Überlebenden Ezid:innen muss ermöglicht werden, als Zeug:innen an diesen Verfahren teilzunehmen.

4. Alle Massengräber müssen geöffnet werden

In Şengal wurden 83 Massengräber mit Opfern des Völkermords gefunden, aber nur 46 von ihnen wurden geöffnet. Alle Massengräber müssen geöffnet und die Leichen identifiziert und ihren Angehörigen übergeben werden.

5. Das Abkommen vom 9. Oktober 2020 muss annulliert werden

Obwohl die autonome Verwaltung von Şengal und ihre politischen Parteien in den letzten neun Jahren Gespräche mit der irakischen Regierung geführt und verschiedene Projekte zur Lösung der politischen, administrativen und sicherheitspolitischen Probleme vorgelegt haben, hat die irakische Regierung keine ernsthaften Schritte unternommen. Stattdessen hat sie, ohne den Willen der ezidischen Gemeinschaft zu berücksichtigen und unter dem Druck des türkischen Staates, der PDK und internationaler Mächte, mit dem Abkommen vom 9. Oktober 2020 den Weg für eine ausländische Intervention in Şengal und im Irak geebnet. Dieses Abkommen dient nicht den Interessen der ezidischen Gemeinschaft und der Bevölkerung des Irak. Es muss aufgehoben und durch ein Abkommen mit den Vertreter:innen der Selbstverwaltung von Şengal ersetzt werden.

6. Wiederaufbau und Rückkehr

Nach dem Völkermord von 2014 verblieben nur noch etwa 10.000 Ezid:innen in Şengal. Derzeit leben etwa 200.000 Ezid:innen in den Ebenen und Bergen der Region. Eine der größten Errungenschaften der Autonomieverwaltung ist die Rückkehr der Menschen in ihre Heimat. Die irakische Regierung wird aufgefordert, mit der Autonomieverwaltung Şengals zusammenzuarbeiten und die notwendigen Einrichtungen bereitzustellen, um die Rückkehr der verbleibenden Vertriebenen zu beschleunigen. Auch die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten werden aufgefordert, die Selbstverwaltung von Şengal zu unterstützen und die verfassungsmäßigen Rechte der ezidischen Gemeinschaft zu garantieren.

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