Sonderkontingent Jesidinnen? Die Angst lebt weiter
Datum:
Die Angst können auch die weihnachtlichen Lichter im Neuen Schloss nicht vertreiben. Sie schwebt über dieser Stuttgarter Lesung, die ein Beispiel für gelungene Integration, ein Hoffnungsschimmer für traumatisierte Jesid:innen sein wollte. Die Angst der Frauen und Männer, abgeschoben zu werden in den Irak, zurück in die Region, wo viele vergewaltigt, versklavt, getötet wurden.
Über ihre Gefangenschaft und ihre eigene Flucht vor dem IS haben Farhad Alsilos und Jihan Alomar geschrieben. Beide sitzen an diesem Tag vor Weihnachten auf der Bühne. So lassen sich Traumata verarbeiten, so kann Integration aussehen. Die jungen jesidischen Zuhörer:innen im Stuttgarter Marmorsaal feiern sie wie Held:innen. Doch Farhad, der Student, Autor des eigenen Leidens, sagt auch: "Viele haben Angst, zurück ins Nichts geschickt zu werden." Da wird es ruhig im Saal.
Es wird wieder abgeschoben in den Irak. Hessen tut es, Bayern tut es, NRW weigert sich. Und Baden-Württemberg schweigt. Ausgerechnet das Land, das 2015 in einem Sonderkontingent rund 1.000 Jesid:innen mit ihren Kindern aufgenommen hat, zu denen auch Farhad und Jihan gehörten. "Einen Abschiebestopp wie in NRW, das würde ich mir von meinem Bundesland Baden-Württemberg wünschen", sagt Jan Ilhan Kizilhan heute. Der Traumatolge hatte die Frauen für das Sonderkontingent ausgesucht und betreut sie.
Ausgabe 623, 08.03.2023
Eine unerträgliche Situation
Von Susanne Stiefel
Den Jesidinnen, die 2015 nach Baden-Württemberg gekommen sind, hat die Regierung versprochen, dass ihre Männer folgen dürfen. Das ist bis heute nicht geschehen. Ein Gespräch mit dem Vertrauten der Jesidinnen, dem Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan.
Das Staatsministerium hat gemeinsam mit dem Stuttgarter Literaturhaus die literarische und politische Begegnung im Neuen Schloss organisiert. "Da sind viele Gerüchte, Missverständnisse und Unsicherheiten im Umlauf", sagt Regierungssprecherin Caroline Blarr. Sie weiß von keinen Abschiebungen aus Baden-Württemberg, und die Frauen und Kinder aus dem Sonderkontingent haben sowieso einen gültigen Aufenthaltstitel. Doch die Angst braucht mehr als einen Paragraphen. Ein Abschiebestopp wäre ein Signal, doch dazu konnte sich die Regierung bisher nicht durchringen.
Ein zweites Sonderkontingent, wie es im grün-schwarzen Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, scheint zur unendlichen Geschichte zu werden. Inzwischen leben Jesidinnen, die vom IS zwangsverheiratet wurden, mit ihren Kindern heimatlos zwischen den Kulturen im Norddirak. Anfang des Jahres teilte das Staatsministerium auf Kontext-Anfrage mit, dass mit der Ankunft der Frauen Ende des Jahres gerechnet werden könne. Doch Ende des Jahres kann Caroline Blarr nur soviel sagen: "Wir sind weiter mit unseren Partnern vor Ort, vor allem mit den NGOs im engen Austausch in dieser Frage". Der Traumatologe Kizilhan hätte sich zum Jahresende konkretere Ergebnisse gewünscht. Auch manche Kommune ist schon weiter. "Wir wären grundsätzlich bereit, einen Teil eines zweiten Sonderkontingents aufzunehmen", sagt Ulrich von Kirchbach, erster Bürgermeister von Freiburg, wo bereits 146 Jesidinnen leben.
Gerade in Freiburg weiß man, wie wichtig Familie für Jesid:innen ist. Dazu gehören auch die Ehemänner und Väter. Schon zweimal hat Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos) an das Staatsministerium in diesem Sinne geschrieben. Sein Stellvertreter von Kirchbach fordert vom Land endlich Entscheidungen "im Sinne der Betroffenen zu treffen und Familienzusammenführungen zu ermöglichen".
In Freiburg haben sich bereits Frauen aus dem Sonderkontingent verabschiedet und einen Asylantrag gestellt. Denn wenn der anerkannt wird, haben sie endlich das Recht auf Familienzusammenführung. Wenn nicht, stehen sie allerdings ohne rechtmäßigen Aufenthalt da. Die Verzweiflung ist groß. Das Thema stehe ganz oben auf der Agenda, beteuert die Regierungssprecherin. Baden-Württemberg hat elf Millionen Einwohner:innen, es hat mehr als 1.000 Jesidinnen aufgenommen, es geht um gerade mal 18 Väter. Manchmal versteht Kizilhan die Welt nicht mehr: "Das ist eine so kleine Zahl und eine so große Geschichte." Es hätte zum Jahresende eine schöne Weihnachtsgeschichte werden können.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen