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Idlib (Nordwearsyrien): Im Schatten des Schattens

In Nordwestsyrien eskaliert die Gewalt. Die Zivilbevölkerung ist massiv gefährdet - von den brutalen Militäroperationen, aber auch dem Ausbleiben internationaler Öffentlichkeit.

Von Radwa Khaled-Ibrahim. Veröffentlicht am 25. Oktober 2023.

Am 05.10.2023 hat das syrische und russische Militär mit der Bombardierung Idlibs in Nordwestsyrien begonnen. Es ist die stärkste Eskalation seit der russisch-syrischen Offensive in 2019 als circa 100 Krankenhäuser gezielt bombardiert, tausende Zivilist:innen getötet und hunderttausende zu Binnenvertriebenen wurden. Der Angriff, inzwischen auf die Ränder von Idlib, zum Beispiel bei Gesr el Sheghour und Ariha, dauert noch an.

„In der Nacht auf Donnerstag bin ich um 5:00 Uhr morgens erschrocken aufgewacht, weil eine Bombe unweit von uns eingeschlagen, ist.“ So berichtet unsere Partnerin Huda Khayti, Leiterin des Women Support and Empowerment Center in Idlib (Syrien), das medico und Adopt a Revolution seit 2014 unterstützen.
Dort bieten Aktivistinnen in der vom Assad-Regime belagerten Enklave Frauen und Mädchen Alphabetisierungs-, Englisch- und Computerkurse sowie Rechtsberatung und Austauschmöglichkeiten an. Huda Khayti hat diese Strukturen aufgebaut, nachdem das von ihr gegründetes Frauenzentrum in Ost-Ghouta während des Kriegs niedergebrannt worden war. Als Binnenvertriebene ist sie selbst nach Idlib gekommen und hat ihr Engagement dort trotz der Bedrohung durch die islamistische Terrormiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham fortgesetzt. Mehrmals in der Woche fahren sie und ihr Team auch in die Geflüchteten-Camps der Region und bieten ihre Arbeit dort an. Auch während des Erdbebens, dessen Folgen immer noch spürbar sind, hat das Zentrum lebensrettende Unterstützung geleistet. In der jetzigen militärischen Eskalation sind gerade solche Institutionen in Gefahr.

Eskalation der Gewalt

Die Militäroperationen werden mit dem islamistischen Attentat auf eine syrische Militärakademie in Homs am selben Tag begründet. „Es ist schlimmer als 2019“, sagt Huda, „nach dem Erdbeben hatten sich die Menschen an eine immerhin relative Sicherheit gewöhnt, sie sind aber weiter erschöpft und haben keine Kraft mehr.“ Die jetzigen Angriffe sind gezielt gegen zivile Strukturen gerichtet. Insgesamt wurden mehr als 51 Angriffe gezählt, 44 davon in Idlib. Nach dem Bericht der Syrien Network for Human Rights richteten sich 13 davon gegen Schulen, acht gegen medizinische Einrichtungen, fünf gegen Rettungseinrichtungen und Fahrzeuge des syrischen Zivilschutzes der Weißhelme, acht gegen Moscheen und sechs gegen Versammlungen und Camps von Binnenvertriebenen. Blutbänke, Hauptstraßen, Märkte und Wohnviertel wurden zur Zielscheibe. „Es scheint, als wäre das Ziel, so viele Zivilisten wie möglich zu töten“, sagt Huda, die selbst zwischenzeitlich Richtung Azaz fliehen musste. Die Dokumentation der Angriffe lässt keinen Zweifel: Es sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auch das Frauenzentrum wurde getroffen. Die letzte Etage wurde zerstört, die Fenster, der Tagungsraum, die Beschäftigten konnte glücklicherweise rechtzeitig fliehen. Nun sind Huda und ihr Team zurück, versuchen weiter zu arbeiten, bieten die Kurse und öffnen den Austauschraum. Die Arbeit des Zentrums unter diesen Umständen aufrechtzuerhalten, ist herausfordernd: die Menschen sind stark verängstigt und schrecken davor zurück sich außerhalb ihrer Wohnung aufzuhalten. Zur Arbeit gehen die Leute nur, weil die ökonomische Lage ihnen das abverlangt. Das Zentrum liegt in der Nähe mehrerer Krankenhäuser. Unter normalen Umständen ein Grund zur Beruhigung, sollten Krankenhäuser doch völkerrechtlich geschützte und sichere Orte sein. Aktuell sind es Orte der Unsicherheit geworden.

Ein Mangel an allem

Die ohnehin schon dramatische humanitäre Lage wird durch die Bombardierungen zusehends verschärft. Vier von fünf Personen haben in Nordwestsyrien nicht genug zu essen. Laut dem World Food Programm leben, auch in Folge des Erdbebens, 83 Prozent der Bevölkerung dort in akuter Ernährungsunsicherheit. Das bedeutet, dass diesen Menschen das Essen ausgegangen ist und sie mehrere Tage ohne Essen auskommen müssen.

Das syrische Pfund wurde in den letzten drei Jahren achtmal abgewertet und verlor damit auf dem Weltmarkt 91 Prozent seines Wertes. Damit haben auch die syrischen Haushalte nach und nach an Kaufkraft verloren, während sich die Lebensmittelpreise auf der Grundlage des Standard-Referenzwarenkorbs seit dem letzten Jahr fast verdoppelten. Während des steigenden Bedarfs gab das Welternährungsprogramm (WFP) im Juni 2023 bekannt, dass es sich aufgrund einer "nie dagewesenen Finanzierungskrise" gezwungen sieht, seine Tätigkeit in Syrien einzuschränken. Bereits im vergangenen Jahr wurden aus selbigem Grund Nahrungsmittelrationen in der Region um 13 Prozent gekürzt. Diesmal könnten davon bis zu 2,5 Millionen Menschen im ganzen Land betroffen sein.

Mit den Angriffen auf die Krankenhäuser wird sich die ohnehin fragile Gesundheitslage weiter verschärfen und die Belastungsgrenzen sprengen. Schätzungen zufolge hat mehr als die Hälfte der medizinischen Fachkräfte das Land bereits verlassen. Im Jahr 2023 benötigen 3,8 Millionen Menschen, das heißt 84 Prozent der Bevölkerung, medizinische Hilfe – gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um fast 25 Prozent.

Internationale politische Amnesie

„Es scheint, als würde die internationale Gemeinschaft alles erlauben“, kommentiert Huda Khayti nicht unbegründet. Ebenfalls am 05.10. hat die Türkei den Nordosten Syriens angegriffen und dort weite Teile der zivilen Einrichtungen beschädigt: Wasser- und Energieversorgung, Krankenhäuser und Schulen, Ölfelder, Fabriken und Warenlager. Hier bahnt sich eine weitere humanitäre Katastrophe an, der kurdische Halbmond ist pausenlos im Einsatz. Auch hier gibt es keinen Aufschrei der internationalen Gemeinschaft, keine großen Solidaritätsbekundungen.

Obwohl die aktuelle Auseinandersetzung in Gaza die Aufmerksamkeit auf die Region lenkt, werden die Verbrechen in Syrien nicht gesehen. „Es fühlt sich so an, als würde man Syrien vergessen wollen.“ Huda bezeichnet das als syrische Fatigue: Erschöpfung über die Nachrichten aus Syrien führt dazu, dass man sie gar nicht mehr hören will.  In westlichen wie arabischen Medien findet sich nur karge bis keine Berichterstattung, so dass um Empathie und Aufmerksamkeit zwischen den Regionen geradezu konkurriert werden muss. Syrien steht im Schatten und ist umhüllt von Schweigen, während dort das Völkerrecht verletzt und massive Kriegsverbrechen begangen werden.

Die Worte unserer Partner sind deutlich: „Wollen sie das Bashar uns auslöscht, damit es ein Problem weniger gibt? Keiner will uns zuhören. Wenn die internationale Gemeinschaft davon keine Notiz nimmt, wird es für uns keine Zukunft geben.“ Damit der Horizont einer irgendwie gearteten Zukunft überhaupt entstehen kann, braucht es deswegen eine politische Lösung und nicht nur unzureichende humanitäre Hilfe, die, wenn überhaupt, temporäre Linderung verschafft. Das syrische Regime muss international für die begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, es braucht aber auch sofortige Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung und ihrer Grundrechte.

Es ist noch nicht zu Ende

Als ich Huda vor zweieinhalb Jahren kennenlernte, bestanden sie und die anderen Aktivist:innen des Zentrums darauf, nicht über die Situation der Krise definiert zu werden. Ihre Arbeit hat nicht mit der Katastrophe, Krise oder Notsituation begonnen und sie soll auch nicht mit diesen enden. Sie hatten sich vorgenommen, Strukturen aufzubauen, fruchtbare Beziehungen zu säen, Orte der Vernunft und Sicherheit zu schaffen, denn sie bezeichnen sich als Revolutionärinnen und möchten diese Arbeit unabhängig von einer Notsituation verfolgen. Ein verheerendes Erdbeben und eine blutige Militäroffensive später hat sich die Permanenz der Krise eingestellt. Huda und die Frauen im Zentrum aber geben nicht auf: „Was sollen wir tun? Natürlich zerrt es an unserer Kraft und Gesundheit. Wir stehen im Angesicht einer Tötungsmaschine und sind so gut wie allein. Zum Weitermachen und dem Festhalten an den Möglichkeiten solidarischen Handelns gibt es für uns aber gerade in dieser Situation der Not keine Alternative. Auch wenn uns andere schon aufgegeben zu haben scheinen, wir sind nicht dazu bereit auf unser Menschenrecht und die Hoffnung auf Zukunft zu verzichten.“


Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico. Außerdem ist die feministische Politikwissenschaftlerin in der Spender:innenkommunikation tätig.

 

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