Syrien: “Natürlich haben wir Angst, dass das Regime gewaltsam reagiert”


In Südsyrien, ausgehend von Suweida, blüht der Protest gegen das Assad-Regime mit einer vielfältigen Bewegung erneut auf. Wir haben mit den Aktivist*innen Lara und Rami* über die aktuelle Lage vor Ort und ihre Ängste gesprochen.


Auf dem Plakat der Demonstrantin steht: “Volksaufstand. Unsere Forderungen sind klar: Die Umsetzung von 2254”

*Lara und Rami leben in Suweida und heißen in Wirklichkeit anders. Aus Sicherheitsgründen haben wir ihre Namen geändert.


Ist das, was wir heute in Suweida sehen, ein Wiederaufflammen der Protestbewegung von 2011?

Absolut. Die aktuellen Demonstrationen müssen zweifellos als eine Fortsetzung der Revolution von damals verstanden werden. In den vergangenen zwölf Jahren sind die jungen Menschen, die Kinder von 2011, zu Männern und Frauen herangewachsen. Sie haben mitgestaltet und führen sie fort. Genauso haben sich unsere Ziele weiter entwickelt. Wir wollen heute nicht nur den Sturz des Regime – wir fordern, dass seine Angehörigen vor Gericht gestellt werden. Assad und seine Gefolgschaft sollen nicht ungestraft davonkommen. Wir fordern die Freilassung aller politischen Gefangenen und dass die Schicksale der vielen Verschwundenen aufgeklärt werden. Unser Ziel ist ein geordneter politischer Übergang ohne Chaos und Zerstörung. Unsere oberste Priorität ist die Umsetzung der Resolution 2254, die einen friedlichen Machtübergang beinhaltet.

Wie gestaltet sich der Protest?

Wir demonstrieren jetzt seit fast einem Monat. Suweida zieht Demonstrant*innen aus dem ganzen Umland an, insbesondere freitags mit Tausenden Teilnehmenden. Auch andere Regionen haben sich dem Protest mittlerweile angeschlossen – diese Woche kamen  beispielsweise Menschen aus Daraa dazu. Die Stimmung auf den Plätzen ist positiv, insgesamt gibt es über 20 Versammlungsorte. Dort skandieren wir morgens Slogans und singen gemeinsam Lieder. Am Abend finden dann Planungssitzungen statt. Wir sind nicht nur auf den Straßen unterwegs, sondern auch aktiv in politischen Ausschüssen in der Region. Gemeinsam entwickeln wir dort eine langfristige Vision für die Zukunft.

Wie inklusiv ist die Bewegung?

Die Bewegung ist äußerst vielfältig. Frauen spielen eine bedeutende und einzigartige Rolle im Protest, ebenso wie junge Menschen, die eine starke Präsenz und großen Einfluss haben. Alle Altersgruppen, von der Universitätsstudentin bis zum Senioren, ehemalige Regierungsangestellte und sogar Vertriebene aus anderen Provinzen, sind vertreten. Auch die Beduinenstämme in Suweida sind dabei. 

Eine neue Entwicklung in der Region ist, dass die religiöse Führung der Drusen die Protestbewegung aktiv unterstützt. Was hat das für eine Bedeutung?

Die Unterstützung des Oberhaupts der drusischen Gemeinschaft, Sheikh Hikmat al-Hajri, und auch des zweiten religiösen Führers, Sheikh Hamoud al-Hanawi, hat die Menschen weiter ermutigt. Das Regime versucht nun neue religiöse Führer zu ernennen, um diese an sich zu binden. Doch diesen fehlt die Unterstützung, weil die Oberhäupter nicht vom Regime, sondern von der religiösen Gemeinschaft gewählt werden.

Die lauteste Forderung ist wie damals “Sturz des Regimes” – können sich wirklich alle Protestierenden damit identifizieren? Wie beugt ihr Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung vor? 

Auch im Stadtbild spiegeln sich die Proteste wider: “Wir lieben dich nicht (Assad)” und “Freiheit und sonst nichts” steht an den Wänden

Nicht alle Protestierenden fordern direkt den Sturz des Regimes. Einige priorisieren wirtschaftliche Forderungen. Die Mehrheit aber will die friedliche Machtübergabe und das Ende des Assad-Regimes. Wir zwingen niemanden, bestimmte Parolen zu rufen. Wir sehen Vielfalt in den Forderungen und betrachten den Protest als erfolgreich, solange niemand ausgeschlossen wird.

Außerdem haben wir aus den Erfahrungen von 2011 gelernt und achten auf Details, die zuvor übersehen wurden. Meinungsverschiedenheiten, wie die Wahl der Flagge, sind heute nebensächlich, da das gemeinsame Ziel im Vordergrund steht. Wir haben kürzlich sogar  die Fahne des FC Barcelona gehisst, nur um allen zu zeigen, dass Flaggen nicht unser Hauptproblem sind. 

Der Protest hat sich in dem Sinne weiterentwickelt und wir vermeiden provokative Forderungen, die Konflikte hervorrufen könnten. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass Einheit und Fokus auf unsere größeren gemeinsamen Ziele entscheidend sind, um erfolgreich zu sein.

Bisher hat das Regime nicht im großen Stil versucht, die Proteste gewalttätig niederzuschlagen. Macht ihr euch Sorgen, dass das bald passieren könnte?

Natürlich haben wir Angst, dass das Regime gewaltsam reagiert, wie es in der Vergangenheit geschehen ist. Bisher gab es in Suweida keine Festnahmen, aber wir erwarten Gewalt und Aggression vom Regime, weil es hier  präsent ist und Sicherheitsinstitutionen hat. Der Sicherheitsapparat in Suweida ist im Vergleich zu anderen Provinzen schwächer. Das ist auch der Grund, warum es in anderen Regime-Gebieten bisher noch keine großen Demonstrationen gab – sie sind fest im Griff der Sicherheitsapparate. Wir befürchten aber, dass das Regime hier in Suweida einheimische bewaffnete Banden einsetzen könnte, die versuchen, interne Konflikte zu provozieren. Wir haben auch Angst, dass das Regime probieren könnte, die Straße nach Damaskus zu sperren und damit der Versorgungsweg für Lebensmittel und Güter blockiert ist. Es hat verschiedene Mittel, die sie gegen uns einsetzen könnten. Wir beobachten deshalb sehr aufmerksam, wie das Regime auf die Proteste reagiert.

Nach über drei Wochen Protest wurden vor der Zentrale der Baath-Partei in Suweida das erste Mal Schüsse abgefeuert. Drei Protestierende wurden getroffen. Wie schätzt ihr die Situation ein?

Wir sehen den Vorfall als pures Kalkül des Regimes, das die jungen Menschen in Suweida zu Gegengewalt provozieren wollte. Es will den Konflikt in der Region schüren. Das war den jungen Männern vor Ort aber bewusst und sie haben sich nicht mitreißen lassen. Sheikh Hikmat al-Hajri reagierte darauf mit einer Rede, in der er die Aufrechterhaltung der Vernunft in der Bewegung betonte.

In der Vergangenheit hat die Internationale Gemeinschaft aus eurer Sicht komplett versagt. Was sollte dieses Mal anders laufen?

Internationale Entscheidungen oder Interventionen, die unsere Anliegen befürworten, würden uns sehr helfen. Klare Erklärungen aus Ländern wie Deutschland, die diese Proteste und unsere Rechte unterstützen und sich für Fälle von erzwungenem Verschwinden, Verhaftungen und Folter einsetzen, wären von großer Bedeutung. Die lokale Berichterstattung dokumentiert alles, aber internationale Medien können die Bilder klar und wirklichkeitsgetreu übertragen. Wir benötigen Druck auf das Regime, um die Sanktionen durchzusetzen, es wirtschaftlich zu isolieren und dessen Anhänger*innen mit Bankkonten außerhalb Syriens zu sanktionieren. Das Regime erhält heute Unterstützung von Russland und dem Iran und könnte gewalttätig reagieren. Daher brauchen wir echte internationale Einheit und Druck, um unsere Forderungen durchzusetzen. Es reichen keine Lippenbekenntnisse, sondern es braucht konkrete politische und wirtschaftliche Maßnahmen gegen dieses Regime.

 

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