Raqqa: Lebendiges Zentrum der Zivilgesellschaft
Mit dem Sieg gegen den Islamischen Staat (IS) lüftete sich 2017 der schwarze Schleier, der vier Jahre über der Stadt Raqqa lag. Einige Personengruppen müssen aber immer noch für ihre Sichtbarkeit kämpfen. Das betrifft vor allem Frauen und Menschen mit Behinderung.
Raqqa ist älter als das Christentum und blickt auf eine Jahrtausende alte Stadtgeschichte zurück. Weltweit bekannt ist sie aber erst seit wenigen Jahren, und zwar als einstige Hochburg und inoffizielle Hauptstadt des IS. Dabei währte dessen brutale Schreckensherrschaft mit vier Jahren im Vergleich nur kurz. Dass die Stadt vorher als liberal und multikulturell galt und auch heute eine lebendige Zivilgesellschaft beherbergt – davon nimmt kaum jemand Notiz. Dabei leistet sie Großartiges und arbeitet nicht nur am Wiederaufbau der Stadt und der Gesellschaft, sondern auch an der Inklusion aller Bevölkerungsgruppen.
Aufbruch nach Assad
Bereits 2013, als sich das Assad-Regime aus Raqqa zurückziehen musste, blühte die Zivilgesellschaft regelrecht auf. Die Straßen waren damals mit Müll und Überresten der Regimebarrikaden übersät. Es waren Aktivist*innen, die sich zusammenschlossen und sich den Herausforderungen annahmen, die mit dem Rückzug des Regimes und der Entmachtung staatlicher Institutionen einhergingen. Sie gründeten eine alternative zivile Stadtverwaltung, die keiner politischen, religiösen oder militärischen Gruppierung angehörte. Diese sorgte dafür, dass die Straßen gesäubert, der Müll entsorgt und die Überreste des Regimes beseitigt wurden.
Gleichzeitig stießen zivilgesellschaftliche Initiativen Projekte an, um beispielsweise zerstörte Krankenhäuser wiederaufzubauen oder Schulen zu sanieren, damit die Kinder so bald wie möglich wieder unterrichtet werden konnten. Auch Kriegsversehrte, Binnenflüchtlinge und die Jugend mit ihren jeweiligen Bedürfnissen wurden mitgedacht und Projekte gezielt für sie etabliert. Kurzum: Raqqas Zivilgesellschaft nahm ihre Zukunft selbst in die Hand.
Die gespaltene Stadt
Nur wenig später erstickt der IS mit seiner Machtübernahme alles zivilgesellschaftliche Leben im Keim. Aber nachdem die Islamisten 2017 besiegt worden waren, entwickelte sich die Zivilgesellschaft nach und nach wieder. Sie wollte die schrecklichen Auswirkungen der IS-Herrschaft überwinden und die gesellschaftlichen Narben heilen. Dabei waren sich alle bewusst, dass der Prozess schwierig und langwierig sein wird. Denn der IS hat das Grundvertrauen unter den Menschen erschüttert und die Gesellschaft gespalten. Zudem ist die wirtschaftliche Lage sehr angespannt, es gibt kaum Arbeit, insbesondere nicht für marginalisierte Gruppen wie Jugendliche, Frauen oder Menschen mit Behinderungen. Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere auch zwischen Binnenvertriebenen und Alteingesessenen, verschärfen die sozialen Spannungen in der Region zusätzlich und wirken einem gesellschaftlichen Zusammenhalt entgegen.
Verschiedene Partner*innen von Adopt a Revolution haben sich deshalb zur Aufgabe gemacht, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenzubringen, damit sich diese austauschen und (wieder) annähern können. Darunter Menschen unterschiedlicher ethnischer (Araber*innen, Kurd*innen) und geographischer Herkunft (Raqqa und dem kurdisch geprägten Nordosten), als auch Menschen jeden Geschlechts, Alters und Status in der Gesellschaft.
„Wenn Menschen Gefahr ausgesetzt sind, suchen sie Schutz bei der Familie. Bei zunehmender Gefahr, dehnt sich der Kreis des Schutzes auf die ethnische oder religiöse Gruppe aus. Mittlerweile haben wir es in Raqqa mit einer neuen Generation junger Menschen zu tun, die Syrien ausschließlich nach 2011 kennen. Sie sind in ihren eigenen Kreisen aufgewachsen und wissen nichts über andere gesellschaftliche Gruppen und vielfältige Lebenswelten. Deswegen versuchen wir durch unser Projekt, diese jungen Menschen mit anderen Akteur*innen der Gesellschaft zusammenzubringen, sie miteinander ins Gespräch zu bringen und mehr übereinander zu erfahren, damit sie Vertrauen aufbauen und gemeinsam zu einem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu kommen.“
Euphrates Organisation for Relief and Development
Das erfolgreichste Mittel gegen Spaltung ist Begegnung
Das Projekt „Youth Bonds“ von Sanad folgt einem ähnlichen Konzept. Sie konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf Jugendliche und Vertriebene in dem Viertel „Al Badu“ in Raqqa. Denn: Al Badu ist mit den gleichen gesellschaftlichen Problemen wie der Rest der Stadt konfrontiert, hat aber die größte Bevölkerungsdichte. Hier zeigen sich die gesellschaftlichen Konflikte besonders konzentriert.
„Die wirtschaftliche Lage ist sehr schlecht und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind sehr gering, vor allem für Frauen und Jugendliche. Viele haben in den letzte Jahren kaum eine Schule besucht, was es noch schwerer macht eine Anstellung zu bekommen. Das trägt zu einem kontinuierlich steigenden Drogenkonsum bei. All diese Probleme belasten das soziale Gefüge massiv. Es herrscht ein Klima von Neid und Missgunst, Vorurteile sind weit verbreitet und das führt zu realen Diskriminierungen. Im schlimmsten Fall zu Gewalt auf der Straße bis hin zu Mord. Auch das erleben wir.“
Mahmoud Abdulhamid von Sanad
Das Projekt setzt deshalb auf Dialog und Begegnung. In Workshops werden junge Menschen – Alteingesessene und Binnenvertriebene – zusammengebracht. Hier lernen sie sich gegenseitig kennen und erfahren, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt und man zusammen stärker ist. Außerdem gibt es Schulungen und Fortbildungen, um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für alle zu erhöhen. Die Aktivist*innen achten bei der Zusammensetzung der Teilnehmenden auf möglichst viel Diversität und einen gleichwertigen Frauenanteil. Minimum 40 Prozent der Teilnehmerinnen wollen Sanad mit ihrer Arbeit erreichen, das haben sie intern als Vorgabe festgelegt. In der Realität sind sogar zwischen 50 und 60 Prozent der Teilnehmenden weiblich. Das ist bereits ein enormer Erfolg, denn Frauen sind sonst in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in Raqqa wenig präsent und noch lange nicht gleichberechtigt in der Gesellschaft.
Lobby für Frauen mit Behinderung
Denn bei aller zivilgesellschaftlichen Anstrengung liegt oft ein Blindspot auf jenen, die unter dem IS am meisten gelitten hatten: Frauen und Menschen mit Behinderung. Die Organisation Radiance of Hope hat sich 2021 mit dem Ziel gegründet, besonders Frauen mit Behinderung zu unterstützen, weil es hier eine große Leerstelle, aber auch große Not gibt. Laut einer selbst durchgeführten Erhebung leben insgesamt 16.000 Frauen mit Behinderung allein in Raqqa. Sichtbar sind sie kaum, denn sie werden zu Hause versteckt.
„Das Bild von Frauen mit Behinderung ist gesellschaftlich sehr negativ geprägt. Deshalb bleiben sie Zuhause und haben keine Chancen am sozialen, wirtschaftlichem oder gar politischen Leben teilzunehmen. Dadurch sind sie auch wirtschaftlich von ihren Familien abhängig. Sie haben keinerlei Fürsprecher in der Gesellschaft, es gibt keine einzige offizielle Anlaufstelle für sie, bei der sie Unterstützung bekommen können. Deshalb haben wir unser Projekt gestartet. Es braucht hier die aktive Zivilgesellschaft, um eine positive Veränderung herbeizuführen. Das haben wir uns zur Aufgabe gemacht.“
Mohammed Al Khanjar, Radiance of Hope
Viele Frauen nehmen überhaupt das erste Mal öffentlich an gesellschaftlichem Leben teil, wenn sie bei Radiance of Hope Dialogrunden und Workshops besuchen . Dass das möglich ist, liegt an der hartnäckigen Überzeugungsarbeit der Aktivist*innen, die sie vorab bei den Familien leisten. In Dialogrunden erfahren die Betroffenen, dass sie nicht alleine sind, sondern viele, und wie sie zusammen stark sein können. Der Austausch mit anderen Betroffenen Frauen und der Dialog mit Nichtbetroffenen ist für sie sehr wichtig und fördert ihr Selbstbewusstsein. Gleichzeitig lernen die Frauen hier ihre Rechte kennen und werden darin unterstützt, sich für sich selbst stark zu machen, sich zu organisieren und Räume zu erstreiten, in denen sie sich aktiv einbringen.
Bis zu einer vollständigen Integration, Gleichberechtigung und einer Gesellschaft, die zusammenhält, ist es zwar noch ein weiter Weg. Am wichtigsten ist aber, dass sich die Zivilgesellschaft auf den Weg gemacht hat. Denn die enormen Anstrengungen wirken:
„Es gibt Organisationen, die sich von uns inspirieren ließen und ähnliche Projekte aufbauen wollen. Das Bewusstsein in der Gesellschaft ändert sich – langsam aber stetig. Wir haben die Chance gemeinsam Raqqa zu einer Stadt für alle zu machen. Und wir ergreifen diese.“
Euphrates Organisation for Relief and Development
Adopt a Revolutions Förderfonds „about:syria“ unterstützt zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen dabei, Dialog, Diskussion und Austausch in ihrer Projektarbeit zu etablieren. In drei bisherigen Ausschreibungen konnten sich registrierte und nicht-registrierte Initiativen aus dem Norden Syriens sowie der deutschen Diaspora auf Förderung eines Dialogprojektes bewerben. Mittlerweile werden acht Projekte gefördert.
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