Flucht & Migration
An der saudisch-jemenitischen Grenze: Unsichtbarer Massenmord?
Zeug:innen berichten über die Tötung hunderter Migrant:innen an der saudisch-jemenitischen Grenze. Welche Verantwortung trägt Deutschland für die exzessive Gewalt?
Von Kerem Schamberger
Die Berichte über die dramatischen Vorkommnisse an der Grenze zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen sind schwer zu ertragen. 430 tote und 650 verletzte Geflüchtete allein in den Monaten Januar bis April 2022. Sie wurden bombardiert, erschossen, massakriert. So beschreibt es ein aufrüttelndes Kommuniqué der Vereinten Nationen, das diese Anschuldigungen bereits Anfang Oktober 2022 veröffentlichte und die diese Woche vom Mixed Migration Center (MMC) mit bedrückenden Aussagen von Überlebenden untermauert wurden.
Veröffentlicht wurde das Kommuniqué von mehreren Sonderberichterstatter:innen und Arbeitsgruppen der Vereinten Nationen. Sie weisen zwar darauf hin, dass sie die Richtigkeit der geäußerten Behauptungen nicht vor Ort nachprüfen können, die vorliegenden Informationen aber auf eine „ernste Angelegenheit hindeuten, die höchste Aufmerksamkeit verdient“. So sollen saudische Sicherheitskräfte durch gezielten Artilleriebeschuss und unter Verwendung von Schusswaffen hunderte Migrant:innen und Geflüchtete im Grenzgebiet des Gouvernement Sa'da im Jemen und in der Provinz Dschaizan in Saudi-Arabien getötet oder verletzt haben. Laut MMC sind im gesamten Jahr 2022 mindestens 794 Menschen an der Grenze getötet und mehr als 1700 verletzt worden, ein Drittel davon Frauen und sieben Prozent Kinder. Die tatsächlichen Zahlen könnten weitaus höher liegen, da Zeug:innen von informellen Bestattungen an abgelegenen Orten berichten. Liegengebliebene Leichen seien von wilden Hunden gefressen worden.
In Deutschland hörte man von all dem bisher nichts.
Der Krieg im Jemen, bei dem Saudi-Arabien ein zentraler Akteur ist, habe nach dem Rückgang der Kriegshandlungen im vergangenen Jahr nichts mit diesen Morden zu tun, vielmehr wird von „direkten Angriffen der saudischen Sicherheitskräfte“ auf die Migrant:innen gesprochen. Es gebe eine „Politik des exzessiven Einsatzes von Schusswaffen (…), um Migrant:innen vom Überschreiten der saudisch-jemenitischen Grenze abzuhalten und abzuschrecken.“ Das MMC schreibt: „Hunderte von Migrant:innen werden routinemäßig und wahllos durch Scharfschützen und Artillerie direkt von staatlichen Beamten getötet. Doch anstelle einer weit verbreiteten internationalen Empörung wird diese Situation mit nahezu völligem Schweigen bedacht. (…) Es handelt sich hier nicht um einen Unfalltod, sondern um gezielte Hinrichtung.“
Betroffen sind vor allem Menschen aus Äthiopien. Sie fliehen über das Rote Meer und den Jemen in Richtung Saudi-Arabien, um dort Zuflucht und Arbeit zu finden. In den letzten zehn Jahren kamen laut MMC jeden Monat etwa 8.000 bis 10.000 Menschen an der jemenitischen Küste an und zogen weiter, die meisten Äthiopier:innen und eine steigende Zahl Somali. Es ist eine wenig beachtete und dennoch zentrale Flucht- und Migrationsroute von Menschen, die dem Bürgerkrieg in Äthiopien und den wiederkehrenden Hungersnöten am Horn von Afrika entfliehen.
Weiter im UN-Kommuniqué: „Die saudischen Sicherheitskräfte greifen kleine Gruppen von Migrant:innen mit Scharfschützen an, beschießen Migrant:innen in größeren Gruppen mit Mörsern oder Granaten und erschießen Migrant:innen, die sich bereits auf saudischem Gebiet befinden. (…) Diejenigen, die sofort getötet wurden, werden Berichten zufolge entweder an Ort und Stelle belassen oder von anderen Migrant:innen vor Ort begraben.“ Im jemenitischen Grenzort Al Khals befände sich ein klandestiner Friedhof, auf dem die Leichen von bis zu 10.000 Migrant:innen liegen sollen.
Wenn die Menschen von den saudischen Sicherheitskräften lebend gefangengenommen werden, sollen sie oft gefoltert worden sein, „indem sie aufgereiht werden und ihnen in die Seite des Beins geschossen wird, um zu sehen, wie weit die Kugel durchschlägt, oder sie gefragt werden, ob ihnen lieber in die Hand oder ins Bein geschossen werden solle“. Überlebende berichten davon, dass bei den Tötungen auch automatisierte Grenzbefestigungen zum Einsatz kommen, mit Selbstschussanlagen, die durch Sensoren und Kameras aktiviert werden. Auch und gerade mitten in der Nacht.
Saudi-Arabien wies die Anschuldigungen des Kommuniqués zurück und erklärte, keine Informationen zu diesen Vorkommnissen zu haben. Zu den nun vom MMC veröffentlichten Aussagen von Überlebenden gibt es noch keine offizielle Reaktion.
Deutschland bildet saudischen Grenzschutz aus
Das ist der Punkt, an dem daran erinnert werden sollte, dass Deutschland seit Jahren an der Ausbildung saudischer Grenzschützer beteiligt ist. Im Jahr 2018 waren 70 Bundespolizist:innen im Einsatz. Eine kurze Unterbrechung erfuhr diese Unterstützung, als im Oktober des gleichen Jahres der Journalist Jamal Khashoggi in Istanbul vom saudischen Regime ermordet wurde. Doch nach nur elf Monaten „normalisierten“ sich die Beziehungen wieder und im Januar 2020 wurde die Ausbildungsmission fortgesetzt. Nicht ohne den Hinweis, dass sichere Grenzen im arabischen Raum, insbesondere „Trainings- und Beratungsmaßnahmen“ sowie die „grenzpolizeiliche Analyse und Ausbildung (…) im deutschen Interesse“ liegen, wie der damalige Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei betonte. Das Innenministerium betonte, dass die Unterstützung des saudischen Grenzschutzes im „außen- und sicherheitspolitischen Interesse“ Deutschlands sei.
Die polizeiliche Ausbildungsmission läuft bereits seit 2009 und wurde auch im Interesse der deutschen Rüstungsindustrie aufgenommen, die sich auf eine Ausschreibung aus Riad beworben hatte. Es ging – ausgerechnet – um Grenzsicherheitssysteme mit Gräben, Zäunen, Mauern, Bewegungsmeldern, Kameras, Bodenradar und Satellitenüberwachung. Vor allem die Grenze zum Jemen sollte so militarisiert werden – also genau dort, wo heute die UN und das MMC von der Ermordung hunderter Geflüchteter berichten.
Das ARD-Magazin Fakt recherchierte, dass zwischen der damaligen Entsendung der deutschen Bundespolizei und dem Abschluss eines Rüstungsvertrages zwischen Saudi-Arabien und dem deutsch-französischen Rüstungskonzern EADS (heute Airbus) über mehrere Milliarden Euro ein direkter Zusammenhang bestand. Deutsche Polizist:innen waren damals Teil der „Verhandlungsmasse“, ohne die Riad dem Angebot des europäischen Rüstungsriesen keinen Zuschlag erteilt hätte. Die Zeit berichtete, dass wenige Tage nach einem Besuch des damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble im Mai 2009 „in der Chefetage des Rüstungskonzerns EADS die Champagnerkorken geknallt“ haben dürften, denn „der Milliardenvertrag war unterschriftsreif.“ Das zu installierende Grenzsicherungssystem war damals eines der wichtigsten Projekte des Konzerns.
Die Grünen – damals noch in der Opposition – kritisierten 2020 die Wiederaufnahme des Ausbildungsprogramms und warfen der Bundesregierung vor, keine Skrupel zu haben, „autoritäre Regime wie Saudi-Arabien weiterhin in Sicherheitsfragen zu unterstützen“. Im Jahr 2022 genehmigte die neue Bundesregierung, nun mit Beteiligung der Grünen, Lieferungen von Rüstungsgütern im Wert von 44,2 Millionen Euro – so viel wie seit 2018 nicht mehr.
Eine Frage der Wahrnehmung
Als europäische Akteur:innen im Migrationsbereich liegt der Fokus unserer Wahrnehmung zurecht vor allem auf dem Mittelmeer – eine der tödlichsten Grenzen der Welt. Doch die Militarisierung der Grenzen und die Verrohung im Umgang mit Geflüchteten sind globale Phänomene, die im Kontext gesehen und verstanden werden müssen. Die Journalistin Franziska Grillmeier schreibt dazu: „Wir sehen gerade eine vollkommene Entgleisung der Gewalt gegenüber Menschen auf der Flucht. Um auf jemanden zu schießen, einzuschlagen oder zuzusehen wie er/sie ertrinkt, braucht es nicht nur die Entmenschlichung des Gegenüber, sondern auch des eigenen Selbst.“
Und die europäische Verantwortung reicht in der Regel weiter als ihre Außengrenzen, wie die Profite von EADS/Airbus mit der Befestigung der saudischen Grenze zum Jemen zeigen. In diesen Kontext gehört auch die Vorverlagerung der europäischen Außengrenzen in die Sahelzone, deren Länder mit massivem Druck dazu gebracht werden, Freizügigkeit einzuschränken, Mobilität zu unterbinden und Migration weitreichend zu kriminalisieren. Vor den damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen können bequem die Augen verschlossen werden. Unterdessen geht das Morden an der saudisch-jemenitischen Grenze weiter. Das MMC berichtet, dass von Januar bis April 2023 bereits 75 Migrant:innen durch Artilleriebeschuss oder Scharfschützen getötet und 226 verletzt worden sein sollen. Und in Europa herrscht Schweigen.
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