Rojava fordert von UN internationale Lösung für IS-Mitglieder
Die UN-Sonderberichterstatterin zur Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus hat die AANES (Rojava) besucht. Die Selbstverwaltung fordert ihr Mitwirken bei der Lösung des Problems der IS-Gefangenen.
Die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien (AANES) hat die Vereinten Nationen (UN) aufgefordert, an einer internationalen Lösung für inhaftierte Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) und ihre Angehörigen mitzuwirken. Die Forderung richteten Bedran Çiya Kurd und Samar al-Abdullah als Ko-Vorsitzende des Außenressorts der AANES an Fionnuala Ní Aoláin, UN-Sonderberichterstatterin für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus. Die irische Jura-Professorin, die an den UN-Menschenrechtsrat berichtet, hielt sich vergangene Woche im Nordosten von Syrien auf. Im Mittelpunkt der Reise stand die Überprüfung der aktuellen Bedingungen in Hafteinrichtungen, Auffang- und Internierungslagern sowie Rehabilitationszentren für Jugendliche. Es war der erste Besuch einer ranghohen UN-Delegation in der Autonomieregion.
Ignorierte IS-Nachwuchsschmiede Camp Hol
Seit der Zerschlagung der Territorialherrschaft des sogenannten IS im März 2019 ist die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien mit mehr als 10.000 inhaftierten IS-Dschihadisten aus rund sechzig verschiedenen Staaten – etwa 2.000 von ihnen kommen aus westlichen Ländern – und zehntausenden teilweise hochgradig fanatisierten Familienangehörigen konfrontiert. Allein im Lager Hol nahe Hesekê sind derzeit über 50.000 Personen untergebracht. Die meisten stammen aus Syrien und Irak, andere aus Europa, dem Kaukasus, Nordafrika und dem Mittleren und Fernen Osten. Etwa die Hälfte ist minderjährig, viele der Kinder sind unter zwölf Jahre alt und werden in islamistischer Ideologie indoktriniert. Das macht die IS-Nachwuchsschmiede Hol zu einem der gefährlichsten Orte weltweit.
50 Geburten pro Monat
Doch statt sich dem IS-Problem in globaler Verantwortung anzunehmen, liegt die gesamte Last sowohl in wirtschaftlicher und logistischer als auch sicherheitspolitischer Hinsicht allein auf den Schultern der Autonomieverwaltung. Nach wie vor ist kaum ein Land bereit, seine wegen Kriegsverbrechen im Namen des IS inhaftierten Staatsbürger und deren Angehörige zurückzunehmen – trotz der Hauptlast Nordostsyriens, die bereits im Kampf gegen die Terrormiliz getragen wurde. Derweil wächst die neue IS-Generation in Hol weiter an. Mit durchschnittlich 50 Geburten pro Monat ist das Lager eine regelrechte Brutstätte für den Dschihad. Die meisten Babys kommen im sogenannten Annex zur Welt – einem speziellen Trakt, in dem mehr als 7.000 ausländische Frauen und Kinder interniert sind. Es ist schon länger bekannt, dass Jugendliche in den Trakt geschleust werden und mit besonders radikalisierten IS-Frauen Kinder zeugen. Ganz unterbinden lässt sich das wegen der schwierigen Sicherheitslage in Hol nicht.
Berichterstatterin fordert Rückführungen in Herkunftsländer
Um die Hochzüchtung der nächsten Terrorgeneration zumindest einzudämmen und einer Indoktrination von Kindern und Minderjährigen entgegenzuwirken, werden besonders gefährliche Jugendliche in einem Rehabilitationszentrum der AANES resozialisiert, um sie aus der Radikalisierungsspirale zu führen. Das aber löste bei Fionnuala Ní Aoláin offenbar Fassungslosigkeit aus. „Die massenhafte, unbefristete und willkürliche Inhaftierung von Kindern, insbesondere Jungen“ sei völlig inakzeptabel, so die UN-Sonderberichterstatterin am vergangenen Freitag bei einer Pressekonferenz in Genf. Der Zugang zu Gefängnissen und Internierungslagern in Nordostsyrien sei zwar „ein wichtiger erster Schritt zur Sicherstellung der notwendigen Transparenz“, sagte Ní Aoláin. Man erkenne auch „nachdrücklich die Komplexität der politischen und sicherheitspolitischen Lage vor Ort“ an. Doch die Trennung von Jugendlichen und Heranwachsenden von ihren Müttern sei unannehmbar, da sie eine klare Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen darstelle und den Rechten des Kindes widerspreche. Die Juristin forderte alle Länder, deren Staatsangehörige im Nordosten Syriens interniert oder inhaftiert sind, auf, ihren „grundlegenden Menschenrechtsverpflichtungen“ nachzukommen und ihre Bürgerinnen und Bürger zurückzuholen.
Selbstverwaltung hat kaum Mittel
Gerade was die Kinder angeht, sollten die Ziele der internationalen Gemeinschaft eigentlich klar sein, betont die AANES. Sie haben oft einen großen Teil oder gar ihr ganzes Leben unter traumatisierenden Bedingungen im IS-Gebiet oder in Auffanglagern verbracht, wo sie nun der Indoktrination durch die Terrormiliz – oftmals durch Strukturen von Dschihadistinnen – ausgesetzt sind. Entsprechend stünden eigentlich die Bewältigung des Erlebten sowie die psychologische und pädagogische Betreuung im Vordergrund. Bis auf wenige Ausnahmen entzieht sich die Staatengemeinschaft aber dieser Verantwortung. Der Selbstverwaltung fehlt es jedoch an Mitteln, Projekte zur Prävention und Deradikalisierung zu hundert Prozent internationalen Standards entsprechend umzusetzen. „Sie erkennt Mängel und Hindernisse in entsprechenden Einrichtungen an und arbeitet mit allen Kräften daran, die Lebensbedingungen in den Lagern trotz der maroden Infrastruktur und begrenzten Kapazitäten zu verbessern“, erklärte das AANES-Büro für Außenbeziehungen nach dem Besuch der UN-Sonderberichterstatterin.
Doch wenn Deradikalisierung und Rehabilitation der Kinder, jedoch auch ihrer Mütter und Väter, nachhaltig gelingen sollen, brauche es bei allen beteiligten Akteuren eine große Klarheit über die eigene Rolle und die damit verbundenen Pflichten. Vor Ort müsse beispielsweise eine Arbeitsweise unterstützt werden, die ein koordiniertes und abgestimmtes Zusammenwirken im Hilfe- und Sicherheitsnetzwerk ermöglicht. Dazu müssten Probleme wirtschaftlicher oder rechtlicher Unausgeglichenheit, wie etwa die juristische Aufarbeitung von IS-Verbrechen sowie die Verurteilung von Tätern, und Instabilität gelöst werden. Solche Vorschläge und weitreichende Angebote für Kooperation macht die AANES bereits seit Jahren. Darüber hinaus fordert sie internationalen Druck auf regionale Länder, die bestehende Spannungen in der Region verschärfen und den IS unterstützen – und damit der Terrororganisation ermöglichen, sich neu zu organisieren und auszubreiten.
Gerade die Türkei gilt als Paradebeispiel für die direkte Unterstützung des IS. Die von Ankara in Teilen von Syrien gewaltsam eingerichtete Besatzungszone hat sich als sicherer Hafen für den IS erwiesen, wie unter anderem Angriffe des US-Militärs auf Anführer der Dschihadistenmiliz immer wieder zeigen. Gehör hat die Selbstverwaltung mit ihren Appellen aber fast nirgendwo gefunden. Das Versäumnis der internationalen Gemeinschaft, auf die Forderungen der AANES adäquat zu reagieren, hat die Frustration der Menschen vor Ort über die ausbleibende Reaktion vertieft – und dadurch das IS-Problem weiter verschärft. Das ist nicht nur ein Problem für Nordostsyrien, sondern auch für Europa.
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