Wan: Die innerkurdische Grenze ist eine Todeszone
Die türkisch-iranische Grenze zwischen Nord- und Ostkurdistan wird für viele Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa zu einer tödlichen Falle. Unzählige Schutzsuchende verschwinden in den Hochgebirgen, werden von Soldaten getötet oder sterben auf den Straßen.
Die nordkurdische Grenzprovinz Wan wurde von den türkischen Besatzungstruppen mit Hilfe von EU-Beitrittshilfen zu einer Festung ausgebaut. Viele Abschnitte der türkisch-iranischen Grenze, die durch das Hochgebirge verläuft, sind durch Mauern und zahlreiche Militärposten abgeriegelt. Diese Grenzmauer dient nicht nur dazu, die Teilung Kurdistans zu zementieren, sondern auch zur Bekämpfung von Menschen, die Zuflucht in Europa suchen. Wie auch auf den Meeresfluchtrouten beobachtet werden kann, führt die Abschottung jedoch nicht zu einem Rückgang der Fluchtversuche der verzweifelten Menschen, sondern dazu, dass immer gefährlichere Wege eingeschlagen werden.
Die Hauptfluchtrouten in der Provinz Wan führen über die Grenzen bei Ebex (tr. Çaldıran), Qerqelî (Özalp), Sêrê (Saray) und Elbak (Başkale). Die Schutzsuchenden setzen ihre Reise dann auf der Straße fort oder überqueren den Wan-See. Es kommt immer wieder zu katastrophalen Unfällen. Einige Menschen, die nach Wan kommen, reisen über Panos (Patnos) von Agirî (Ağrı) in andere Städte.
Die genaue Anzahl der im Hochgebirge Verschwundenen lässt sich kaum beziffern. Deshalb ist die Zahl von 49 Schutzsuchenden, die zwischen 2019 und 2022 in den Bergen erfroren sind, nicht repräsentativ. Oft verschwinden die Leichen im Schnee und in Felsspalten und werden anschließend von Tieren gefressen. Doch nicht nur aufgrund der Witterungsbedingungen sterben die Flüchtlinge, die größtenteils aus Afghanistan, Pakistan und anderen asiatischen Ländern stammen. Die Armee eröffnet immer wieder das Feuer auf die Menschen. In demselben Zeitraum wurden drei Todesfälle durch Armeebeschuss registriert. Die Dunkelziffer dürfte hierbei weitaus höher liegen. Die Migrant:innen werden oft von Soldaten beraubt und gefoltert. Sie werden teilweise nackt im Schnee zurückgelassen. Es kommt auch immer wieder vor, dass Soldaten gegen Bestechungsgelder mit den Schleusern zusammenarbeiten, die die Menschen in völlig überladene Lastwagen oder Kleinbusse zwängen. Im genannten Zeitraum wurden daher 42 Schutzsuchende bei Verkehrsunfällen getötet. Weitere 68 starben bei der Überquerung des Wan-Sees durch Schleuser.
Am 27. Juni 2020 ereignete sich das schwerste bekannte Bootsunglück auf dem Wan-See. Dabei verloren mindestens 61 Schutzsuchende ihr Leben. Obwohl seitdem drei Jahre vergangen sind, konnten die Leichen von mehr als zwanzig Flüchtlingen nicht gefunden werden. Von den zwölf Personen, die im Zusammenhang mit der Katastrophe verhaftet wurden, wurden elf später wieder freigelassen. Dies mag auch daran liegen, dass das Boot dem AKP-Kreisvorsitzenden von Westan (Gevaş), Tahsin Değirmencioğlu, gehörte. Der AKP-Politiker soll selbst die Behörden benachrichtigt haben, da sein Neffe das Boot steuerte und sich als erster ans Ufer retten konnte.
Einige Beispiele verdeutlichen das Ausmaß der Ereignisse in der Provinz Wan:
Am 4. Juli 2022 eröffnete die türkische Armee das Feuer auf einen Kleinbus, in dem Flüchtlinge transportiert wurden. Bei dem Angriff in der Nähe des Dorfes Karahisar in Wan-Sêrê wurden zwölf Personen verletzt und ein vierjähriges Kind getötet. Die Betroffenen stammten aus Afghanistan.
Dies war nicht der einzige Angriff der Armee in Wan-Sêrê. Am 2. Januar 2023 wurde eine afghanische Staatsbürgerin von Soldaten in einen Wachraum verschleppt und dort vergewaltigt.
Immer im Frühling tauchen beinahe wöchentlich Leichen von Schutzsuchenden im Schnee auf. Oft handelt es sich um Einzelpersonen, manchmal auch um ganze Gruppen. Zwischen dem 1. April und dem 6. Mai 2019 wurden die Leichen von 25 Menschen gefunden. Es ist höchstwahrscheinlich, dass es sich hierbei um ein Verbrechen handelt, da eine der 25 Personen an einer Schussverletzung starb.
Die Leichen der Erfrorenen, Erschossenen, Zerquetschten und Ertrunkenen werden in anonymen Gräbern auf dem Seyrantepe-Friedhof für Personen ohne Angehörige bestattet. Mit der Abschottungspolitik Europas und der vorherrschenden türkischen Außengrenze wächst der Friedhof unaufhörlich an.
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