In Hatay: Kollektives Leben organisiert
Das im linken Viertel Armutlu in Antakya nach dem Erdbeben in Eigenregie errichtete Koordinationszentrum trotzt der staatlichen Entvölkerungspolitik und organisiert gemeinschaftliche Lebensräume.
Nach dem Erdbeben in Kurdistan, Türkei und Syrien vor fünf Wochen sind viele Freiwillige von sozialistischen Organisationen in die betroffene Region gefahren, um sich an den Hilfsarbeiten zu beteiligen und Solidarität zu zeigen. Die revolutionären Freiwilligen erreichten das Erdbebengebiet vor den staatlichen Institutionen und richteten an vielen Orten Koordinationszentren ein.
Eines dieser Koordinierungszentren ist im linken Viertel Armutlu in der Kreisstadt Antakya (Provinz Hatay) und wurde nach Ali Ismail Korkmaz benannt, der während des Gezi-Widerstands im Jahr 2012 von der Polizei ermordet wurde. Das Zentrum wurde unmittelbar nach der Katastrophe von revolutionären Erdbebenopfern aus Hatay gegründet und arbeitet weiterhin zu vielen Themen, die von den Such- und Rettungsaktionen bis zur Deckung des dringenden Bedarfs der überwiegend alawitischen Bevölkerung reichen. Die Freiwilligen schafften es in den ersten Stunden nach dem Erdbeben, Menschen ohne jegliche Ausrüstung aus den Trümmern zu befreien.
Mehmet Ali Ceylan gehört zur Leitung des Koordinierungszentrums und ist selbst Erdbebenopfer. Er hat Angehörige und Bekannte verloren in dem Viertel, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Dutzende von Familien sind derzeit im Zentrum untergebracht. Die Freiwilligen haben einen Bereich geschaffen, in dem die Erdbebenopfer eine Notunterkunft und eine Küche zur Zubereitung von Mahlzeiten finden. Im Schichtsystem wird saubergemacht und für die Sicherheit gesorgt, die Freiwilligen hören sich die Probleme der Menschen an und überlegen, was man gemeinsam tun kann.
Mehmet Ali Ceylan, Koordinierungsstelle Ali Ismail Korkmaz in Armutlu
Ceylan beschreibt die ersten Stunden nach dem Erdbeben und die Gründung der Koordinierungsstelle wie folgt: „Am 6. Februar wurden alle von einem Erdbeben erschüttert, und ich war einer davon. Ich wohne im Stadtteil Armutlu. Im ersten Moment war der Reflex von uns allen nur das Überleben. Wir wurden etwa eineinhalb Minuten lang geschüttelt und dachten nur daran, wie wir das Erdbeben überleben können.
Nachdem die Erschütterungen vorbei waren, haben wir uns nach draußen gerettet. Der Prozess an sich war schlimm, aber ich möchte darauf hinweisen, dass revolutionäre und sozialistische Menschen hier seit Jahren und Jahrzehnten tätig sind. Mit dieser Arbeit wurde in den 80er und 90er Jahren eine Saat gelegt, die heute blüht und dynamisch weitergeht. Die Ergebnisse erlebten wir bereits in der ersten Stunde. Um 04:17 Uhr wurden wir von einem Erdbeben erschüttert, und innerhalb einer Stunde haben wir ein Team in der Gündüz-Straße im Armutlu-Viertel aufgestellt. Das war tatsächlich ein Produkt des revolutionären Kampfes, des sozialistischen Kampfes, den es hier seit den 80er Jahren gibt. Wir haben sehr schnell ein Team von sechs oder sieben Personen gebildet. Das Wetter war unangenehm, es regnete stark. Kinder und ältere Menschen waren ohne Schuhe an den Füßen aus den Häusern geflohen, sie hatten keine Jacken. Wir suchten nach Möglichkeiten, Bekleidung und alle möglichen Materialien zu finden, die uns einfielen, um uns vor dem Wetter und dem Regen zu schützen. Wir wurden tatsächlich sehr schnell fündig."
Menschenleben ohne Ausrüstung retten
Armutlu ist ein Ort, an dem die revolutionäre Bewegung dicht organisiert ist und es vor allem während des Gezi-Widerstands große Proteste gab. Die Menschen in dem Viertel haben eine oppositionelle Ader. Die revolutionären Freiwilligen hatten daher bereits eine Basis, als sie der Bevölkerung in ihrer größten Verzweiflung zur Hilfe kamen und ihre eigenen Sorgen zurückstellten, um die Menschen in den ersten Stunden des Erdbebens nicht allein zu lassen.
Während er beschreibt, was passiert ist, spricht Ceylan auch die Bedeutung dieses Ortes an und erinnert daran, dass es eine revolutionäre Aufgabe ist, inmitten der begrenzten Möglichkeiten des ersten Augenblicks an das Leid des Volkes und nicht an die eigenen Probleme zu denken: „Wie ich eingangs sagte, waren wir dank unserer jahrelangen Arbeit im revolutionären Kampf in der Lage, dieses Team zur Verfügung zu stellen. Dann suchten wir nach Möglichkeiten, Planen und Regenmäntel zu besorgen, um die Menschen zu schützen. Natürlich waren unsere Möglichkeiten sehr begrenzt. Wir haben die Arbeit für eine halbe Stunde unterbrochen, um rationaler zu handeln und zu überlegen, wie wir es engmaschiger und qualifizierter machen können. Nur zwei Stunden später waren wir ein Team von zehn Personen geworden. Mit diesem Team begannen wir sehr schnell mit den Such- und Rettungsarbeiten in der Gündüz-Straße. Nach dem ersten Moment des Selbstschutzes fing die Suche in den Trümmern an.
Während die Nachbeben anhielten, sind wir ohne Arbeitsgeräte, Ausrüstung usw. in die Gebäude eingedrungen und haben eine Frau gerettet. Wir konnten ohne Leiter in ein vierstöckiges Gebäude gehen und eine Frau mittleren Alters herausholen, die kurz zuvor operiert worden war. Mehr Menschen konnten wir nicht retten, weil unsere Möglichkeiten sehr begrenzt waren. Ich meine, wir hatten keine Mittel. Wir hatten keine Ausrüstung, wir hatten nichts. Dann wurde uns klar, dass es so nicht funktionieren konnte und wir anders vorgehen mussten. Wir ließen wir ein Team von zwei oder drei Leuten in der Gündüz-Straße zurück, das auf mögliche Stimmen in den Trümmern achten sollte. Die anderen machten sich auf die Suche nach einem geeigneten Gelände für die Unterbringung der Überlebenden. Und wir fanden das Defne-Haus im Stadtteil Akdeniz."
Ein gemeinschaftlich organisiertes Zentrum
Das im Defne-Haus eingerichtete Lebenszentrum wurde vom ersten Moment an unter Beteiligung der Bevölkerung und gemeinsam mit ihr aufgebaut. Die revolutionären Freiwilligen der ersten Stunde waren ebenfalls Erdbebenopfer. Sie begannen mit demselben Schmerz wie alle anderen Menschen, die ersten Keime eines neuen Lebens zu organisieren.
Krankenstation im Defne-Haus: Nicht das Erdbeben, der Kapitalismus tötet
Mehmet Ali Ceylan ist auch der Antakya-Vertreter der Kaldıraç-Bewegung. Er sagt, dass die revolutionären Freiwilligen zu einer Zeit vor Ort waren und nach Lösungen suchten, als der Staat nicht präsent war: „Wie ich eingangs sagte, haben wir als Kaldıraç-Bewegung hier jahrelang gearbeitet, wir kennen jeden Zentimeter Boden. Daher sind wir schnell auf das Defne-Haus gekommen und haben uns hier eingerichtet, um gemeinsam mit den Menschen und unseren Genossinnen und Genossen einen Lebensraum zu schaffen. Wir hatten so gut wie nichts, nur ein paar Päckchen Linsen und ganz wenige Pappbecher. Wir haben sehr schnell Linsensuppe gekocht und in Pappbechern verteilt. Als die Pappbecher nicht ausreichten, haben wir Plastikflaschen in der Mitte durchgeschnitten und sie sowohl für die Suppe als auch für Trinkwasser verwendet.
Dann kam die Zeit, in der sich die besten Beispiele der Solidarität in Anatolien und Mesopotamien zeigten. Schon am zweiten Tag kamen unsere Freundinnen und Freunde aus dem ganzen Land hierher. Es wurde eine sehr große Solidarität an den Tag gelegt. Unsere Kochstelle um einen Kessel verwandelte sich in ein Suppenzelt. Das Defne-Haus wurde zu einem Schlafsaal und einem Krankenhaus umgebaut. So nahm die erste Phase eines Lebensraums Gestalt an. Wir sahen das Ergebnis dieses kollektiven Lebens und damit wuchs unser Glaube, dass wir ein neues Leben aufbauen können. In der Folge riss die Unterstützung nicht ab, die Menschen kamen in Scharen hierher. Schnell entstanden zwei Schlafsäle, eine Krankenstation, ein Essenszelt und weitere Zelte. Alles geschah auf sehr funktionelle Weise im Sinne eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens.“
Frauenversammlung zum 8. März
Die Erdbebenregion darf nicht entvölkert werden
Wie in den stark vom Erdbeben zerstörten Gebieten um Markaz (tr. Pazarcik) und Elbistan mit ihrer überwiegend kurdisch-alevitischen Bevölkerung droht auch im kosmopolitischen Hatay eine Massenabwanderung der Einheimischen und die Zerstörung eines alten Kulturerbes. Ceylan sagt, dass der Staat seit dem Erdbeben eine Politik der Entvölkerung in diesen Regionen betreibt. Das Gefüge von Antakya könne nicht zerstört werden, die Menschen hätten gesehen, was geschehen ist, und sich dagegen gewehrt, erklärt er und fährt fort: „Wenn wir nach über einem Monat auch heute noch in der Lage sind, hier zu leben, dann deshalb, weil wir erkannt haben, dass dies nur durch Zusammenarbeit und Koexistenz möglich ist. Das haben wir hier tatsächlich gesehen. Die Menschen haben erkannt, dass sie ein neues Leben aufbauen können, wenn sie gemeinsam handeln. An dieser Stelle ist es natürlich notwendig, kurz etwas zu erwähnen. Seit dem ersten Moment des Erdbebens, mit der Schockwirkung, wurde hier eine Politik der Entvölkerung betrieben.“
Die erste Maßnahme sei die kostenlose Evakuierung der Bevölkerung gewesen, erläutert Ceylan: „Ich spreche hier von einer Ansammlung voller Menschen, die ihre Mitmenschen retten wollten. Das erste, was vom Staat organisiert wurde, war ihre Abreise. Als nächstes wurde propagiert, dass der Staudamm bricht und alle sofort flüchten müssen. Danach wurden die Freiwilligen unter Druck gesetzt und mit den Worten bedroht: ,Wir lassen euch hier nicht Revolution spielen'. Es folgte eine intensive Präsenz des Staates in den Lebenszentren. Der Staat hat seine Haltung sehr deutlich gemacht. Es ist die Haltung eines Staates, dessen Geschichte wir kennen. Es geht um Entvölkerung. Wir kannten diese Politik und wussten, was geschehen würde. Deshalb haben wir dieses Lebenszentrum nicht einen Moment lang verlassen, nicht eine Sekunde lang. Wir haben es vorausgesehen und uns dieser Politik widersetzt. Gemeinsam haben wir ein kollektives Leben organisiert. Es wird nicht gelingen, diesen Ort zu entvölkern, das wissen wir."
Wir werden in diesen Straßen wieder Fairuz hören
Ceylan erklärt, dass die historische Struktur und die Kultur von Hatay zerstört werden sollen und das von Anfang an das Ziel des Staates war. Abschließend sagt er: „Sie werden niemals in der Lage sein, diese Stadt, dieses historische Gefüge, diese Kultur, diese Gesellschaft zu zerstören. Wir werden immer Wege und Methoden finden, um diese Geschichte und Kultur zu schützen. Wir werden auf diesen Straßen wieder [die libanesische Sängerin] Fairuz hören. Ali Ismail Korkmaz, Abdullah Cömert und Ahmet Atakan werden auf diesen Straßen weiter präsent sein.
Wir werden wieder in großen Kesseln kochen, wie wir es hier im Zentrum bereits tun. Wir haben uns selbst mit Strom versorgt und eine eigene Krankenstation geschaffen, als keine staatlichen Vertreter und niemand von AFAD und vom Roten Halbmond hier waren. Das haben wir getan, weil dieses Land uns gehört. Wir sind die wesentlichen Elemente dieser Gegend und wir werden dieses Leben fortsetzen. Wir werden diese Kultur immer am Leben erhalten. So wie dieses Lebenszentrum den Menschen Hoffnung gegeben hat, wird es immer genug Hoffnung geben, um unsere Zukunft selbst aufzubauen."
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