In Şehba bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an
Der Kanton Şehba ist eine der am stärksten durch den seit 2011 andauernden Krieg in Syrien betroffene Region. Das Leben in den 75 Dörfern ist von Artillerieangriffen, Besetzung und Plünderung geprägt. Erschwerend kommt ein massives Embargo hinzu.
Die Lage in der selbstverwalteten Region von Şehba im Norden Syriens bewegt sich immer stärker auf eine unkontrollierte Eskalation zu. Zu den anhaltenden Angriffen der Türkei und islamistischen Proxy-Truppen auf die rund 200.000 Menschen in dem von Wüste geprägten Gebiet, unter ihnen viele Efrîn-Vertriebene, kommt erschwerend ein durch das syrische Regime verhängtes Embargo hinzu. Durch die seit März 2019 aufrechterhaltene Belagerung herrscht in vielen Bereichen ein Versorgungsengpass. Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) sorgt sich angesichts des eingebrochenen Winters vor einer schweren humanitären Krise.
Karte: Şehba - Region mit dem Hauptort Tall Rif'at
Ein Teil der Şehba-Region ist 2016 von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) von der Besatzung durch islamistische Fraktionen wie die Türkei-nahe Al-Nusra-Front befreit worden. Nach der Besatzung Efrîns im Frühjahr 2018 durch den türkischen Staat haben sich die Grenzen der Region verändert. Der Norden befindet sich seither in unmittelbarer Nachbarschaft zur türkischen Besatzungszone und der Süden, Westen und Osten wird von Damaskus kontrolliert. Şehba wird somit von allen Seiten belagert. Es gibt nur einen einzigen Zugang in die Region, der sich wenige Kilometer nördlich von Aleppo in der Ortschaft Ehdas befindet. Der wiederum wird von der berüchtigten 4. Division der syrischen Armee kontrolliert. Dieser Militärverband hat mafiöse Züge und treibt für die Einführung lebenswichtiger Produkte nach Şehba Zölle ein.
Mit dem Einsetzen des Winters hat Damaskus das Embargo gegen Şehba nochmals verschärft, eine Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Gütern wird damit de facto unmöglich gemacht. Auch Kraftstoffe unterliegen der Blockade, wodurch die medizinische Versorgung sowie der öffentliche Dienst fast komplett zum Erliegen gekommen sind. Davon sind vor allem Kinder, alte und kranke Menschen betroffen.
Die AANES hatte für dieses Jahr den Bedarf an Treibstofflieferungen Şehba mit mindestens 200 Tankladungen beziffert. Im Normallfall müssten alle zwei Wochen mindestens 60 Tankladungen erfolgen. Bis zur Verschärfung des Embargos konnten allerdings nur 15 Tanklaster die Grenze zur Region passieren. Seit zwei Monaten werden die Treibstofflieferungen durch die 4. Division der syrischen Armee vollständig verhindert.
15.000 Kinder können keine Schule besuchen
Durch das Ausbleiben der Treibstofflieferungen ist die Stromversorgung in Şehba zusammengebrochen, Kraftstoff zum Heizen jetzt im Winter steht ebenfalls nicht zur Verfügung. Dadurch mussten viele Schulen geschlossen werden. Aktuell können rund 15.000 Schülerinnen und Schüler keinen Unterricht erhalten.
Auch die Versorgung mit vor allem zum Kochen und Heizen benötigten Gas ist durch das Embargo stark eingeschränkt. Von 28.000 Kartuschen, die eigentlich gebraucht würden, konnten gerade einmal 10.000 in die Region eingeführt werden. Die Einfuhr von Babymilch ist strikt verboten.
In den Gesundheitszentren und Apotheken gehen die Medikamente aus. Das Avrîn-Krankenhaus behandelte bis vor einiger Zeit noch täglich etwa 600 Menschen und hatte fünf Krankenwagen im Einsatz. Durch das Embargo ist der Krankenhausbetrieb zum Erliegen gekommen. Die Bezirke Til Rifet, Ehres, Ehdas und Fafîn in der Embargoregion sowie die Auffanglager Efrîn, Şehba, Veger, Serdem und Berxwedan stehen vor besonders großen Schwierigkeiten, da sie zehntausende Vertriebene beherbergen.
Der türkische Staat begeht gezielt Massaker gegen geflüchtete Zivilist:innen
Zelûx Bekir, Ko-Vorsitzende des Volksrats von Efrîn, ist äußerst besorgt. „In Şehba bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an“, so die Kurdin. „Seit vier Jahren muss die Bevölkerung der Region täglich schweren Artilleriebeschuss und Killerdrohnenangriffe des türkischen Staates erdulden. Es werden gezielte Massaker an der Zivilbevölkerung begangen. Sie treffen Kinder, Frauen und ältere Menschen. Aber der Widerstand dagegen geht auch hier weiter.“
Ankara, Damaskus und Moskau Hand in Hand gegen Kurd:innen
Damaskus müsse seine Politik der Aushungerung aufgeben und das Embargo umgehend aufheben, fordert Bekir. „Der Winter ist gekommen, die Lebensbedingungen haben sich verschlechtert, und die Härte des Embargos nimmt von Tag zu Tag zu. Auf der einen Seite drohen der türkische Staat und seine Banden weiterhin mit Angriffen, auf der anderen Seite zieht das Regime die Schlinge weiter zu. Beide Regime wollen den Willen der Bevölkerung durch Krieg und Tod, durch Hunger, Vertreibung und Krankheit brechen. Russland ist in der Region zwar präsent, unternimmt aber nichts gegen diese Praxis, da die Region auf diese Weise faktisch unter der Kontrolle von Damaskus steht. Alle Seiten sind in dem Ziel vereint, den Willen des kurdischen Volkes zu brechen, und ergänzen sich in dieser Hinsicht.“
Zelûx erinnerte daran, dass im vergangenen Jahr viele ältere und kranke Menschen infolge des Embargos ums Leben gekommen sind. Und auch diesen Winter werde wieder mit Todesfällen gerechnet. Der Zustand der Menschen, die in den Lagern leben, sei offensichtlich: „Sie leben in Zelten.“ In den Stadtvierteln kämen viele Menschen in Ruinen von Häusern unter, die im heißen Krieg gegen den dschihadistischen Terror zerstört wurden.
„Ein Embargo gegen ein widerständiges Volk zu verhängen in einer Region, in der das Leben auch ohne Blockade schon schwierig genug ist, ist eine Katastrophe. Auf der kurzen Strecke zwischen Aleppo und Şehba hat das Damaszener Regime insgesamt sieben Kontrollpunkte einrichten lassen. Weder Treibstoff, Propangas, Mehl noch Medikamente dürfen diese Checkpoints passieren. Wir stehen hier vor einer schweren humanitären Krise. Wenn das Embargo so fortgesetzt wird, ist das Leben von Kindern, alten und kranken Menschen in Gefahr.“
Druck gegen Embargo muss erhöht werden
Es müsse Druck ausgeübt werden auf Damaskus, damit das Embargo aufgehoben wird, fordert Zelûx. Auch alle Kontrollpunkte des Regimes in der Region müssten abgebaut werden. Angehörige der 4. Division erheben hier für die Durchfahrt von Dingen des lebensnotwendigen Bedarfs praktisch unbezahlbare „Steuern und Zölle“, betont Zelûx. „Dennoch leisten die Menschen in der Region einen großartigen Widerstand. Sie kämpfen sowohl gegen die Angriffe des türkischen Staates als auch gegen das Embargo des syrischen Regimes. Sie sind beharrlich und klar in ihrem Kampf, egal was passiert, und sich der Politik gegen das kurdische Volk und des Projekts der Selbstverwaltung bewusst. Unser Ziel ist es, nach Efrîn zurückzukehren. Wir werden weiterkämpfen, koste es, was es wolle.“
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