Beobachtungen einer Internationalistin in Rojava (Teil 2)
Die Internationalistin Nûdem Tolhildan hat sich aus Deutschland den YPJ angeschlossen und beschreibt ihre Gedanken und Beobachtungen über den Krieg in Rojava in einem offenen Brief. (Teil 2)
Zurzeit führt die Türkei eine groß angelegte Angriffswelle gegen die Gebiete der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) durch, im Visier befinden sich vor allem die Zivilbevölkerung und die zentrale Infrastruktur. Seit Monaten droht Erdogan mit einer weiteren Bodeninvasion in der auch als Rojava (Westkurdistan) bekannten Region. Ich nutze diese Gelegenheit, um die Situation der letzten Monate aus meiner Perspektive als Internationalistin aus Deutschland zu beschreiben.
Europäische Verantwortung
Wie können die Europäer:innen die Augen vor dem ständigen Völkermord an der kurdischen Bevölkerung verschließen, die für Europa zum Verhandlungsobjekt gemacht wird? Ich meine nicht die Staaten, die dieses Spiel spielen, sondern wir als Bevölkerung, wie können wir uns so sehr von den Realitäten in anderen Gebieten entfremden, dass wir diese Ereignisse unbeantwortet, ja unbemerkt lassen? Die Türkei wurde im Kalten Krieg im Interesse der NATO als Puffer gegen die Sowjetunion benutzt, in den letzten Jahren benutzt die EU sie als Torwächter, indem sie Erdogan Geld gibt, damit er nicht zu viele Flüchtlinge an die Grenzen von Griechenland und Bulgarien lässt. Sie verkauft die Panzer und andere Waffen, die die Türkei vielleicht schon morgen einsetzen will, um diese Dörfer zu überrollen. In Deutschland wird uns beigebracht zu vergessen, den Krieg nicht zu sehen, in den wir verwickelt sind, den dritten Weltkrieg, der schon lange vor dem Krieg in der Ukraine begonnen hat. Abdullah Öcalan, der als Wegweiser für die kurdische Freiheitsbewegung gilt, hat einmal gesagt, dass sie zu 50 Prozent gegen den türkischen Staat und zu 50 Prozent gegen die Mächte kämpfen, die die Türkei unterstützen, allen voran die NATO. Ohne deren Erlaubnis kann die Türkei in der Region nicht einmal einen Finger rühren.
Was bedeutet Internationalismus in diesem Zusammenhang?
Wenn man von Internationalismus spricht, als ob es darum ginge, im Krieg der anderen zu kämpfen, dann ist das für Kurdistan eine völlig falsche Vorstellung. Als Europäer:innen, vor allem als Deutsche, Französ:innen, oder Engländer:innen ist dies unser Krieg – solange wir uns nicht entschließen, aktiv Partei für die demokratischen Kräfte im Mittleren Osten zu ergreifen, unterstützen wir die falsche Seite. Unser Schweigen ist tödlich. Und so wie viele mutige Genoss:innen aus der Türkei, die hierher kamen und im Kampf gegen den Staat, aus dem sie kamen, gefallen sind – um Verantwortung zu übernehmen und für die Möglichkeit eines freien Lebens zu kämpfen – kamen auch Europäer:innen und sollten noch zahlreicher kommen, um ihren Platz zum Schutz der menschlichen Grundwerte einzunehmen. Gerade als Frauen aus der ganzen Welt hierher zu kommen, ist ein sehr sinnvoller Beitrag, um von den jahrzehntelangen Erfahrungen des kurdischen Frauenbefreiungskampfes zu lernen. Indem ich an der Seite der Genossinnen kämpfte und organisierte, lernte ich innerhalb weniger Monate mehr über mich selbst, die Kultur in Westeuropa und im Mittleren Osten, die Realität des antikolonialen und antipatriarchalen Kampfes als je zuvor in meinem Leben. Die YPJ sind eine demokratische Kraft für die Befreiung der Frauen, die sich aus Frauen aus der Gesellschaft zusammensetzt, um ihr Heimatland zu verteidigen. Es ist eine große Chance, dass die Frauenbefreiungsbewegung feministische Frauen und Frauen, die weltweit für die Freiheit kämpfen, aufruft, sich ihr anzuschließen und in den Reihen der Frauenarmee zu kämpfen. Aber auch wenn wir nicht hierherreisen können, können wir beginnen, uns an den Orten, an denen wir leben, zu organisieren, um aktiv am Kampf teilzunehmen, wie bei den Kampagnen von Women Defend Rojava oder bei der Organisation von Selbstbildungskursen über die Ideologie der Bewegung. Auf diese Weise können wir als internationalistische Frauen eine entscheidende Rolle spielen und am Jahrhundert der Frauenbefreiung teilnehmen. Der Feind hat die Gefahr, die organisierte Frauen für ihn darstellen, längst erkannt. Gerade in den letzten Monaten wurden viele wertvolle, mutige Genossinnen ins Visier genommen: Gefallene wie Jîyan Tolhildan, die eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS einnahm oder Nagihan Akarsel, die wichtig war für die Weiterentwicklung der Jineolojî, der Wissenschaft von Frauen und Leben, die Teil des kurdischen Befreiungskampfes ist, und viele viele mehr. Die Türkei hat eine Kultur des Femizids gegen die Bewegung etabliert, auf die wir mit noch größerem Widerstand antworten müssen.
Der Krieg gegen die Freiheitsbewegung wird in den Bergen ausgetragen
Der Krieg gegen das kurdische Volk, der Krieg gegen die Menschlichkeit, den die Türkei führt, betrifft nicht nur Rojava, denn eigentlich ist Rojava sogar nur ein kleiner Teil davon. Wenn wir uns die anderen Teile Kurdistans, die anderen Teile des Mittleren Ostens anschauen, dann können wir erst das ganze Bild betrachten. Die Revolution in Rojava ist so eng mit dem Krieg in den anderen Teilen verbunden, der Krieg in dem einen Gebiet wirkt sich auf die anderen Gebiete aus und andersherum. Es ist eine große Schande für die internationale Gemeinschaft der offenherzigen Völker, für die Gesellschaften in Europa, dass die Türkei in den Bergen Südkurdistans seit nunmehr sechs Monaten einen brutalen Krieg mit chemischen Waffen führt und es nur sehr wenige Reaktionen der Öffentlichkeit darauf gibt, sehr wenige ethische Aufschreie dagegen. Um die Aufmerksamkeit auf diese Tötungen mit chemischen Waffen in den Bergen zu lenken, haben sich im Oktober zwei Guerillakämpferinnen, Sara Tolhildan und Rûken Zelal, in einer Polizeistation in Mersin (eine Küstenprovinz im Süden der Türkei) in die Luft gesprengt, um das völlige Schweigen über diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu brechen, die die Türkei mit Hilfe der NATO begeht. Das Giftgas wird in westlichen Ländern gekauft, die Technologie wird in Europa hergestellt. Nun hat die Guerilla vor wenigen Wochen ein Video veröffentlicht, auf dem zu sehen ist, wie ein Guerillakämpfer durch die chemischen Waffen stirbt, eine Szene, die wir als einen dringenden Aufschrei lesen müssen. Warum reagiert niemand darauf, warum lässt man es einfach geschehen, als wäre das normal? Warum gibt es keine Aktionen der Solidarität dagegen? Warum werden keine öffentlichen Erklärungen dagegen abgegeben? Wenn wir uns so sehr an diese Art von Gewalt gewöhnen können, dass es uns nicht mehr berührt, diese Art von Bildern zu sehen, dann töten wir auch den Rest des menschlichen Wesens in uns selbst. Die Türkei hat in den letzten Jahren chemische Waffen eingesetzt, auch in Rojava, auch gegen die Bevölkerung. Das wurde offiziell am Fall eines kleinen Jungen im Serêkaniyê-Krieg bewiesen, und wurde dieser Tage in einem Dorf im nicht besetzten Teil Efrîns wiederholt. Wenn wir es zulassen, wird die Türkei auch weiterhin Giftgas gegen die kurdische Freiheitsbewegung sowie die Bevölkerung einsetzen. Daraus können wir die Notwendigkeit erkennen, dagegen aufzubegehren und unsere Bemühungen jeden Tag größer werden zu lassen.
Organisieren wir uns und nehmen wir an der Frauenrevolution teil
Hier im Krieg zu kämpfen ist nicht nur eine Frage der Waffen, denn der Krieg hat sein Gesicht verändert. Die Bereiche der Kriegsführung sind nicht nur das Militär, die physische Konfrontation. Es ist auch ein Krieg der Desinformation und Manipulation, ein Krieg der Ideologie, ein Krieg der Wirtschaft, ein Krieg gegen die Kultur und gegen die Natur. Es ist ein Teil des dritten Weltkriegs, an dem alle großen hegemonialen Kräfte beteiligt sind. Als wir über die Strategien sprachen, wie wir diesen Kampf gewinnen werden, betonte eine Freundin die Rolle der westlichen Staaten und unseren Einfluss auf sie, um die Menschen zum Aufstand zu bewegen und die aktuelle Politik zu ändern, sowie die Waffenindustrie daran zu hindern, mit Völkermorden Gewinne zu machen. Die Freunde fragen uns als Internationalist:innen aus Europa in letzter Zeit oft, wo die Menschen seien, die mit uns als kurdische Freiheitsbewegung solidarisch sind, während unsere Freund:innen in den Bergen Südkurdistans mit verbotenen Waffen brutal getötet werden? Wenn sie chemische Waffen einsetzen, das Land und die Natur zerstören, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen? Wer steht neben uns, wenn wir für den Schutz der Revolution von Rojava kämpfen? Wir sollten uns gegen diese Angriffe des türkischen Staates erheben, unser Umfeld, unsere Freunde und Familien mobilisieren, alle möglichen Methoden nutzen, um über diesen Krieg zu informieren und kreativ zu sein, um auf der Seite des Freiheitskampfes hier zu stehen. Die Lage ist ernst. Wir sollten uns vor Augen führen, welch wichtige Rolle die Guerilla in den Bergen als Garant für Hoffnung auf globaler Ebene und im Kampf für eine demokratische Lösung im Mittleren Osten spielt. Sie ist die Vorhut der Frauenbefreiung weltweit und das Rückgrat der Revolution in Rojava. Die Revolution von Rojava selbst ist der Hoffnungsschimmer des letzten Jahrzehnts für alle Menschen, die für die Freiheit kämpfen. Wenn die Rojava-Revolution verliert, werden alle freiheitsliebenden Menschen weltweit einen Verlust erleiden. Wir sollten uns mit unseren Aktionen auf die Seite des kurdischen Befreiungskampfes stellen, denn jeder Tag, der vergeht, ist ein Tag, an dem unsere Genoss:innen getötet werden. Es ist unsere historische Pflicht, unsere Haltung zu zeigen, aktiv zu werden und die Menschen um uns herum zu mobilisieren. Wenn nicht wir, wer sonst soll es tun, wenn nicht wir jetzt, wann dann? Worauf warten wir noch?
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