Analyse: Angriffsdeal zwischen Moskau und Ankara
Die Journalistin Zeynep Boran erklärt, Russland habe die Zustimmung für die türkischen Angriffe aufgrund eines Deals mit Ankara erteilt. Gleichzeitig unterstreicht sie, dass es beim Taksim-Anschlag Hinweise auf türkeitreue Söldner gibt.
Seit dem Anschlag auf der Istiklal-Straße in Istanbul, bei dem der dringende Verdacht besteht, dass er von türkeinahen paramilitärischen Kräften verübt wurde, fliegt die Türkei Luftangriffe auf nord- und ostsyrische Dörfer und Städte. Regimechef Erdoğan kündigte außerdem einen Angriff mit Bodentruppen an. Die internationale Staatengemeinschaft hat allenfalls ihre „Besorgnis“ zum Ausdruck gebracht. Die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien ist jedoch entschlossen zum Widerstand. Die Nachrichtenagentur Mezopotamya sprach mit der Journalistin Zeynep Boran über die Entwicklungen und ihre Hintergründe.
Die Zeugenaussagen der Verdächtigen und ihre später aufgedeckten Verbindungen deuten darauf hin, dass der Anschlag am 13. November in Istanbul von Kreisen aus der sogenannten FSA („Freie Syrische Armee") begangen wurde. Wie sind die Beziehungen der FSA zur Türkei?
Das AKP/MHP-Regime hat, um sein Leben noch ein wenig zu verlängern, nicht davor zurückgeschreckt, die eigene Bevölkerung mit der Taksim-Explosion den eigenen hohlen osmanischen Träumen zu opfern. Das haben wir schon öfter erlebt. Die Grundlage dieses Angriffskonzepts lässt sich zweifellos auf die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) vom 26. Mai und sogar auf den Gipfel von Teheran zurückführen. Erdoğan, der mit dem Gipfel in Teheran den Kreis seiner „schmutzigen Allianz“ erweitern wollte, drohte nach der MGK-Sitzung erneut mit einer Invasion in Rojava. Dann begann er, die Zivilbevölkerung entlang der Grenzlinie mit Drohnen ins Visier zu nehmen. Diese Angriffe reichten Erdoğan nicht aus. Er versucht, sich durch Blutvergießen am kurdischen Volk an der Macht zu halten. Denn er ist sich dessen bewusst, dass er die Revolution von Rojava nicht durch Töten und Massaker liquidieren kann. Genau hier kam erneut die Vorstellung [des Geheimdienstchefs Hakan Fidan] ins Spiel, der 2014 sagte, er könne drei Männer nach Syrien schicken, um Raketen auf die Türkei abzufeuern und einen Vorwand für einen Krieg zu schaffen. Diese Praxis wurde mit den Taksim-Anschlag erneut mit den [vom AKP/MHP-Regime] geführten Söldnergruppen umgesetzt.
Ahlam Albaschir, eine der Täterinnen des Taksim-Anschlags, erklärte entgegen den Aussagen von [Innenminister] Süleyman Soylu, dass ihr Bruder früher Mitglied der FSA war. Es gibt niemanden, der nicht weiß, dass diese FSA-Gruppen, die eine Reinkarnation des IS durch den türkischen Staat darstellen, auf Anweisung des MIT handeln. Seit der Besetzung von Efrîn 2018 und 2019 von Serêkaniyê und Girê Spî führen die in der Region stationierten FSA-Söldnergruppen eine grausame Praxis von Plünderungen, Diebstahl, Entführung und Folter gegen die Menschen dort durch. Der türkische Staat wurde international bloßgestellt. Er ist nicht mehr in der Lage, die von ihm etablierten Banden zu kontrollieren. Obwohl der MIT in den vergangenen zwei Jahren immer wieder intervenierte und Gespräche führte, war die Praxis im Feld eine andere als vereinbart.
Während alle Hinweise auf die FSA deuten, versucht die Türkei beharrlich, den Angriff auf die PYD und der YPG zu schieben, und trotz alledem werden auch noch die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien genehmigt. Warum?
Unmittelbar nach dem Anschlag sagte Innenminister Süleyman Soylu: „Im Rahmen der Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, ist die Terrororganisation PKK/PYD verantwortlich. Die Anweisung kam aus Kobani ... Die Täterin kam über Afrin.“ Die PKK, die PYD und die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) wiesen diese Behauptungen zurück. Die Abteilung für auswärtige Beziehungen der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) erklärte ebenfalls, dass Ahlam Albaschir nicht in ihrer Region registriert sei, und forderte die Einsetzung einer unparteiischen Untersuchungskommission, um die Fakten aufzudecken und sie der Türkei und der internationalen Öffentlichkeit vorzulegen. In einem Interview mit al-Monitor erklärte der QSD-Kommandant Mazlum Abdi, dass die Frau, die die Bombe gelegt hat, drei Brüder hat, die als IS-Dschihadisten getötet wurden.
Letzten Monat führte der MIT ein geheimes Treffen mit den Anführern der FSA durch. Nach dem Treffen begann der MIT mit Unterstützung Russlands, Hayat Tahrir al-Sham (HTS – al-Qaida-Ableger) [von Idlib] nach Efrîn zu verlegen. Im Gegenzug dafür erhielt der türkische Staat die Erlaubnis, Kobanê anzugreifen.
Die USA und Russland spielten erneut die drei Affen und sahen schweigend zu, als eine Operation gegen Rojava und ein Massaker an der Zivilbevölkerung drohte. Diese Staaten, die bei den Invasionen in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî nur Erklärungen wie „wir sind besorgt, beunruhigt und verfolgen die Lage“ abgegeben hatten, nehmen nun die gleiche Haltung gegenüber den Angriffen des türkischen Staates auf Rojava und die Selbstverwaltung, insbesondere auf Kobanê, ein. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, erklärte, dass die USA weiterhin jede militärische Aktion ablehnen, die die Lage in Syrien destabilisieren könnte. „Wir rufen unsere türkischen Partner auf, Zurückhaltung zu üben, um eine Eskalation der Spannungen nicht nur im Norden und Nordosten Syriens, sondern im gesamten Gebiet zu verhindern“, sagte der Syrien-Sonderbeauftragte des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Alexander Lawrentjew, als Reaktion auf die Luftangriffe der Türkei. Die USA und Russland versuchen, mit den üblichen Ausreden davonzukommen, um ihre Interessenpolitik wie immer vorne anzustellen. Als Gegenleistung für die Rolle bei der Verteilung des in den in ukrainischen Häfen angesammelten Getreides an Europa und andere Länder der Welt forderte die Türkei von Russland die Erlaubnis, Rojava anzugreifen.
Nach den Astana-Gesprächen haben der türkische Staat und Russland beschlossen, den HTS-Dschihadisten die Vorherrschaft in Efrîn und Cerablus zu überlassen. Nach Informationen, die ich aus zuverlässigen Quellen erhalten habe, hat der MIT im vergangenen Monat ein geheimes Treffen mit FSA-Anführern in Efrîn abgehalten. Nach dem Treffen begann der MIT mit der Unterstützung Russlands, HTS in Efrîn zu stationieren. Im Gegenzug dafür hat Russland dem türkischen Staat erlaubt, Kobanê anzugreifen. Die USA, die ihre eigene Interessenpolitik im Nahen Osten betreiben, haben ebenfalls gezeigt, dass sie bereit sind, die bisher mit ihnen verbündeten Kurd:innen in Rojava zu opfern.
Es wurde angekündigt, dass parallel zu den Luftangriffen auch eine Bodenoperation durchgeführt werden soll. Wie stehen die Chancen dafür?
In der Nacht vom 19. auf den 20. November bombardierte die türkische Armee mit 58 Kampfflugzeugen zahlreiche Städte und Gebiete von Şehba bis Asos an der Grenze nach Ostkurdistan. Die Flugzeuge drangen damit nach langer Zeit sowohl in den von der internationalen Koalition als auch in den von Russland kontrollierten Luftraum ein. Die heftigsten Angriffe fanden an den Fronten bei Kobanê, Minbic und Şehba statt. Die Angriffe erstrecken sich weiterhin über die gesamte Grenzlinie mit einer Tiefe von mehr als 30 Kilometern. Während die Angriffe ununterbrochen fortgesetzt wurden, kündigte Erdoğan einen Bodenangriff an. Mit den Mörsergranaten, die auf die Kocatepe-Grundschule in Karkamış (Türkei) fielen, wollte man den Boden für einen Bodenangriff bereiten. Die Grundschule, die nach eigenen Angaben getroffen wurde und in der Zivilisten getötet wurden, war zuvor evakuiert und in ein militärisches Hauptquartier umgewandelt worden. Da die Schule in der Nähe der Grenze liegt, wurde sie zu einem Informationszentrum, in dem die FSA und der MIT koordinierte Aktivitäten durchführten. So wie der Taksim-Anschlag den Beginn der Angriffe gegen Rojava darstellte, liegt die Möglichkeit, den Mörserangriff auf die Schule in Karkamış als Rechtfertigung für eine Bodenoperation zu nutzen, nicht weit entfernt.
Die HTS-Gruppen zogen aufgrund einer „Vereinbarung“ nach Efrîn. Dann gab es wieder einen Rückzug. Was ist das Ziel dieser Maßnahmen?
Zeitgleich mit den Invasionsdrohungen gegen Rojava wurden alle Söldnergruppen in Efrîn, Marê, Azaz und al-Bab mobilisiert. Die Aufstände in den besetzten Gebieten wurden durch die Forderung des MIT ausgelöst, die Söldner von Jays al-Islam sollten ihre gepanzerten Fahrzeuge und schweren Waffen an HTS übergeben und ihre Stellungen im Zentrum von Efrîn ebenfalls HTS überlassen. Mit dem Eingreifen des MIT wurde kosmetisch verkündet, dass sich HTS aus den Gebieten, in die die Gruppe eingedrungen war, zurückziehe. Danach begannen HTS-Söldner, sich unter dem Deckmantel von Ahrar al-Scham oder der Samarkand- und Sultan-Murad-Brigade in der Region festzusetzen. Während die Bewegungen in den vom türkischen Staat besetzten Gebieten anhalten, lassen sich die HTS-Söldner unter verschiedenen Namen in vielen Gebieten nieder. Nach Informationen, die wir aus regionalen Quellen erhalten haben, rückten in der ersten Novemberwoche sieben Militärfahrzeuge von Ahrar al-Scham, in denen sich angeblich HTS-Dschihadisten befanden, in das Dorf al-Wan bei al-Bab ein. Gleichzeitig begannen HTS-Söldner, sich im Bezirk Efrîn-Mabeta und in den Dörfern unter dem Deckmantel der Sultan-Murad-Brigade niederzulassen. Ende Oktober und Anfang November wurden dreißig Mitglieder der HTS-Gruppe Zubair-bin-al-Awwam-Brigade in Mabeta stationiert. Dabei trugen sie ebenfalls die Uniformen der Sultan-Murad-Brigade.
Jabhat al-Shamiya und Jaysh al-Islam akzeptierten die Ansiedlung von HTS-Banden in der Region nicht. Die dem dritten Regiment angehörigen Söldnergruppen brachen letzte Woche die unter dem Regime des MIT arrangierten Abkommen zwischen ihnen und den Gruppen aus dem zweiten Regiment, sprich Furqat al-Hamzat, al-Amschat- und der Sultan-Murad-Brigade. Sie drangen mit Dutzenden von Militärkonvois in das Dorf Kefer Cenê und die Dörfer in Efrîn-Şêrawa ein. Daraufhin rief das zweite Regiment die Mobilisierung in Efrîn aus und kündigte an, dass es angreifen werde, um diese Dörfer zurückzuerobern. Das Eingreifen von HTS löste erneut einen Konflikt unter den vom türkischen Staat geführten Banden aus.
Die aus al-Qaida hervorgegangenen HTS-Gruppen, die nach den Beschlüssen der im Juni 2022 unter der Führung des MIT abgehaltenen Treffen aktiv wurden, breiten sich jeden Tag weiter aus. Die Türkei will einen schwarzen Gürtel von salafistischen Gruppen um die AANES herum schaffen.
Auf welche Art von Widerstand wird die Türkei stoßen, wenn sie ihre Angriffe verstärkt? Wird es eine Besatzung wie in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê geben?
Die Gesellschaft in Nord- und Ostsyrien hat das wahre Gesicht und die Ziele der Türkei erkannt. Der Widerstand früher und heute gegen diese Invasionsangriffe hat der Syrienpolitik der Türkei die Maske vom Gesicht gerissen. Das Volk hat sich seit langem auf einen revolutionären Volkskriegs vorbereitet. Es hat die Fähigkeit, mit Widerstand auf alle Arten von Angriffen des türkischen Staates zu reagieren. Die Gesellschaft ist sich bewusst, dass die Angriffsoperation des türkischen Staates bereits seit Monaten beabsichtigt wird. Wie aus der letzten Erklärung des QSD-Kommandanten Mazlum Abdi hervorgeht, werden die Angriffe des türkischen Staates dieses Mal nicht wie in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî enden. Im Gegenteil, der Krieg wird sich entlang der gesamten Grenzlinie ausbreiten. Abdi erklärte auch, dass er an die Verteidigungskräfte und die Stärke des Volkes glaube und dass die militärischen Vorbereitungen gegen die Angriffe in diesem Sinne abgeschlossen seien.
Wie bewerten Sie das Schweigen zu den Angriffen auf Kobanê?
Kobanê, das durch seinen Menschheitskampf gegen den Schrecken des IS im Jahr 2014 weltweit bekannt wurde, ist erneut ins Visier des türkischen Staates geraten, der den IS unterstützt. Trotzdem spielen die Staaten der Welt, die ihre auf ihren Interessen beruhenden Beziehungen zum türkischen Staat in den Vordergrund stellen, weiterhin die drei Affen gegenüber den mörderischen Angriffen auf die kurdische Bevölkerung. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade Kobanê und der Miştenur-Hügel die am stärksten angegriffenen Orte sind. Auf diesem Hügel hat der IS seinen größten Schlag erlitten und genau dort bombardiert der türkische Staat besonders intensiv, so als wolle er den IS rächen. Er zerstörte das dort neu gebaute Krankenhaus für die Behandlung von Corona-Kranken vollständig. Die Angriffe des türkischen Staates auf alle Kantone und Dörfer von Rojava, insbesondere Kobanê, werden stündlich intensiver. Wer nicht gegen diese Angriffe des türkischen Staates vorgeht, wird als Komplize bei den völkermörderischen Angriffen auf das kurdische Volk und die Völker der Region in die Geschichte eingehen.
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