Türkische Invasion – Was wir verlieren könnten
Im Schatten des Ukrainekriegs bereitet Erdogan seine nächste militärische Invasion in Nordsyrien vor. Unsere Partner*innen dort wissen: Die Zivilgesellschaft würde eine solche Invasion am härtesten treffen.
Mit unserer Arbeit setzen wir seit über zehn Jahren auf zivilgesellschaftliche Projekte. Warum? Weil wir daran glauben, dass sie langfristig das größte Veränderungspotential besitzen. Bei unseren Partnerprojekten im syrischen Nordosten lässt sich diese langfristige, grassroot Veränderung besonders beeindruckend nachvollziehen. Umso besorgniserregender ist die akute militärische Bedrohung. Was würden wir ganz konkret verlieren, wenn es zur türkischen Invasion Nordsyriens kommt? Ein Blick zu unseren Partner*innen von Hassaka bis Qamishli.
Gestärkte Frauenrechte
“Vor der türkischen Invasion 2019 war die Situation hier ziemlich stabil, ruhig und sicher. Als Folge des Angriffes im Oktober 2019 mussten mehr als 300.000 Menschen aus den Gebieten um Ras Al-Ain und Tell Abyad weiter in den Süden fliehen. Viele kamen in den Städten Qamishli, Hassaka und Raqqa unter,” erzählt eine Aktivistin vom Sawiska Frauenzentrum. Dessen Gründerinnen in Qamishli entstammen der linken Bewegung und waren schon lange vor dem Aufstand gegen Assad in oppositionellen und feministischen Zusammenhängen aktiv. Die Aktivistinnen leisten seit Jahren feministische Basisarbeit in einem von patriarchalen Strukturen geprägten Umfeld.
“Sawiska ist ein Frauenverein, dessen Aktivitäten sich an Frauen allen Alters, aller Schichten und jeglicher Herkunft richtet und der das Ziel verfolgt, Frauen zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen,” fassen die Aktivistinnen ihre Arbeit zusammen. Im Frauenzentrum werden Frauen über ihre Rechte aufgeklärt, politische empowerment Workshops organisiert und versucht über vielfältige Programme das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Empowerment von Frauen voranzutreiben. “Wir führen hauptsächlich Diskussionsrunden und Aufklärung in den Kommunen in der Region Qamishli sowie in marginalisierten Gebieten durch, wo die oben erwähnten patriarchalen Denkmuster und veralteten Traditionen noch sehr verbreitet sind.”
Gesellschaftliche Brücken
Sawiska ist bei weitem nicht die einzige Organisation, die transformative Arbeit in der Region leistet. In Zeiten größter gesellschaftlicher Polarisierung bauen die Aktivist*innen des PÊL Zentrums im nordsyrischen Qamishli Brücken zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen der vielfältigen Region. Seit der Gründung im Herbst 2013 hat das Kernteam aus sieben Aktivist*innen und einem Kreis von dutzenden Freiwilligen einen Ort des Dialogs geschaffen.
Den Fingerabdruck, den wir hier hinterlassen haben, hat viele Jahre Arbeit gebraucht, zieht sich jetzt aber durch die Gesellschaft. Wir zivilen Organisationen versuchen Räume zu beleben, in denen es um Meinungsfreiheit geht und Menschen- sowie Jugendrechte, Auswanderung oder Bildung auf dem Plan stehen.”
Diyar, PÊL
Das Zentrum, in dem regelmäßig Aktivist*innen aus mehr als zwanzig Organisationen zusammenkommen, ist so etwas wie ein Demokratielabor: Während der Kommunalwahlen organisierten sie Wahlbeobachter*innen, zur Rolle von Minderheiten, Frauen, Grundrechten und Wirtschaft in der Demokratie führten sie Veranstaltungsreihen durch. Besonders das diesjährige regionale, politische Jugendcamp, das PÊL in Raqqa organisiert hat, hat einen großen Eindruck bei unserem Partner Diyar hinterlassen:
“Den Fingerabdruck, den wir hier hinterlassen haben, hat viele Jahre Arbeit gebraucht, zieht sich jetzt aber durch die Gesellschaft. Wir zivilen Organisationen versuchen Räume zu beleben, in denen es um Meinungsfreiheit geht und Menschen- sowie Jugendrechte, Auswanderung oder Bildung auf dem Plan stehen. Es gibt Jugendliche, die sich nicht getraut haben, ihre wirkliche Meinung vor politischen Mandatsträger*innen zu zeigen und durch die gemeinsame Arbeit gelernt haben, dass auch sie eine Stimme haben. Es gibt wirklich sehr wenig Räume hier in der Gegend, in denen Menschen hinkommen und ihre Meinung ausdrücken können. Das ist einer unsere Haupterrungenschaften.”
Neben PÊL arbeiten viele unterschiedliche Akteur*innen als
gesellschaftliche Brückenbauer. Seit dem Rückzug des Assad-Regimes aus
den nordöstlichen Gebieten Syriens in 2012 gründeten sich viele
Organisationen und Initiativen vor Ort, darunter das Welat-Magazin.
Das Magazin war das erste unabhängige und parteilich ungebundene
Magazin in der Region, das vor allem in der kurdischen Sprache
veröffentlicht wird. “Es geht nicht nur darum, dass wir auf Kurdisch und
Arabisch schreiben, sondern wir entwickelten mit dem Magazin auch so
eine Art Archiv für die gesellschaftlichen Wandlungen, die in den
letzten neun Jahren stattgefunden haben. Es ist total spannend:
Inzwischen gibt es sowohl eine neue Generation an Autor*innen, als auch
an Leser*innen,” beschreibt Umran die Arbeit des Welat Magazins.
Ein Schritt nach vorn zwei Schritte zurück: Die türkische Invasion bedroht den Fortschritt
Die vielen kleinen Fortschritte in der Region sind mühsam erkämpft und hängen schon jetzt am seidenen Faden. Die zunehmenden Angriffe des IS in den letzten Monaten, vor allem der Angriff auf das Gefängnis in Hassaka im Februar, hat viel hart erkämpftes Vertrauen und Sicherheit im Sozialgefüge der Region wieder geschwächt. Die drohende türkische Invasion würde faktische das Aus für alle progressiven Bewegungen in der Region bedeuten.
“Nach den Vorkommnissen des Ghoreran-Gefägnisses in Hasaka ist die Sicherheitssituation hier sehr fragil. Es gibt die Angst der Rückkehr vom IS im Falle einer Militärattacke durch die Türkei. Es gibt schlafende Zelle des IS, die nur auf den passenden Moment warten, um sich zu bewegen. Das ist eine existenzielle Bedrohung für die Bewohner*innen hier. Die Menschen hier sind von allen Seiten belagert. Es gibt keinen Ausweg mehr für sie, außer nach Kurdistan-Irak zu gehen und dann weiter nach Europa. Hier gibt es für sie keine Zukunft mehr, wenn es zu einer erneuten Attacke kommt,” warnt unser Partner Umran.
Unsere Hoffnung ist, dass die Antizipation dieses Dramas dazu führt, dass die internationale Gemeinschaft einschreitet und die Invasion der Türkei nicht zulässt. Auch Erdogan reagiert auf Druck.
Umran, Welat Magazin
Berichte aus den türkisch besetzten Gebieten belegen, wie rigoros die Türkei in den Gebieten der sogenannten “Sicherheitszone” vorgeht:
“Tausende Häuser, Ländereien und Besitztümer wurden enteignet, insbesondere die von vermeintlichen Mitarbeiter*innen der kurdischen Selbstverwaltung. Es folgten Verhaftungen, Entführungen und Folter. Das betraf auch jene, die versuchten, wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Die meisten von ihnen konnten ihren Besitz nicht wiederbekommen.” berichtet Bassam al-Ahmed, syrischer Menschenrechtsaktivist und Gründer der NGO “Syrians for Truth and Justice”, über den Einmarsch der türkischen Streitkräfte in Afrin. Besonders die Zivilgesellschaft wird in den Gebieten massivst behindert, berichten auch unsere Partner*innen:
“Nach der Besetzung von Afrin, Ras al-Ain und Tel Abyad haben wir einige Erfahrung damit, wie die Situation in den türkischbesetzen Gebieten ist. Die Zivilgesellschaft wird total zurückgedrängt, die meisten fliehen. Diejenigen, die bleiben, dürfen nicht arbeiten. In Ras Al-Ain sind sogar einige Organisationen zurückgegangen, um die verbleibenden Menschen zu unterstützen, aber sie dürfen nur sehr eingeschränkt arbeiten,” erinnert sich Umran.
Auch in Idlib, das unter der Kontrolle der HTS steht, sowie in den Gebieten der Selbstverwaltung ist die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eingeschränkt – die Repressionen innerhalb der türkischen Besatzungszone seien allerdings willkürlicher und unberechenbarer, erklären Partner*innen.
“Unsere Hoffnung ist, dass die Antizipation dieses Dramas dazu führt, dass die internationale Gemeinschaft einschreitet und die Invasion der Türkei nicht zulässt. Auch Erdogan reagiert auf Druck. Das haben wir gesehen, als immer mehr Berichte von Menschenrechtsverletzungen in den türkisch besetzten Gebieten veröffentlicht wurden. Die Türkei könnte so ein großes Gebiet nicht wirklich ohne weitere Menschenrechtsverletzungen kontrollieren. Die Araber*innen, Kurd*innen und Assyrer*innen lehnen diese Politik ab,” betont Umran vom Welat Magazin.
Arti
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