YPG-Sprecher: Wir werden Angriffe direkt erwidern
„Eine Situation wie in Efrîn, Serêkaniyê oder Girê Spî wird sich nicht wiederholen. Wenn es zu einem Angriff kommt, wird es eine direkte Antwort geben“, kommentiert YPG-Sprecher Nûrî Mehmûd die türkischen Drohungen gegen Rojava.
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hat eine vollständige Besetzung eines 30 Kilometer breiten Streifens entlang der Südgrenze der Türkei angekündigt. Damit würde ein Großteil von Rojava unter die Besatzung der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten geraten. Im ANF-Interview klärt Nûrî Mehmûd, Sprecher der Volksverteidigungseinheiten (YPG), über die Hintergründe des Krieges und die Vorbereitungen in der Region auf.
Gibt es Bewegungen, die auf eine Umsetzung der türkischen Invasionspläne hindeuten?
Nun, zunächst sollte kein Zweifel daran bestehen, dass die Drohungen, die Erdoğan heute so offen ausspricht, nichts Neues sind. Ob er es nun offen anspricht oder nicht, die Angriffe auf Şehba, Tel Rifat, Serêkaniyê, Til Temir, Ain Issa und allgemein die Schnellstraße M4 dauern ohnehin nahezu ununterbrochen an. Angriffe der Türkei gegen unsere Regionen gibt es eigentlich ständig. Parallel zur aktuellen Ankündigung will Erdoğan die Angriffe weiter eskalieren. Dafür benutzen das AKP/MHP-Regime und Erdoğan zusammen mit der türkischen Armee auch die Überreste von Organisationen wie dem IS, Al-Qaida, den Muslimbrüdern und anderen. Sie sammeln sich und mobilisieren sich. Es gibt Vorbereitungen für einen Angriff auf Rojava. Erdoğan macht seit einiger Zeit auch im diplomatischen Bereich und in den Medien keinen Hehl daraus, dass er solche Angriffe vorbereiten lässt. Türkische Killerdrohnen führen täglich gezielte Anschläge gegen die Bevölkerung und Angehörige unserer Kampfverbände in ganz Rojava durch. Es gibt eine Kontinuität in diesen Angriffen. Es wird versucht, eine neue und größere Invasion zu starten. Analog zur Ankündigung bereitet der türkische Staat seinen Angriff vor. Wir betrachten Erdoğans Kriegserklärung als ernsthafte Gefahr und gehen damit dementsprechend um.
Stellt dies denn nicht eine Verletzung des Abkommens vom Oktober 2019 dar?
Alle Angriffe sind als Verletzung des Abkommens zwischen Russland, den USA und der Internationalen Koalition, uns und der Türkei zu betrachten. Diese Kräfte sind die Garantiemächte dieser Vereinbarung. Die Artillerie-, Panzer-, Haubitzen-, Flugzeug- und Söldnerangriffe auf die Regionen Til Temir, Ain Issa, die M4, Tel Rifat, Şehba, Qamişlo, Dêrik und Kobanê haben nie aufgehört. Die ganze Welt sollte wissen, dass die türkische Armee auf Erdoğans Befehl hin dieses Abkommen verletzt hat. Die internationalen Mächte, die USA und Russland müssen ihre Garantieverantwortung erfüllen. Wenn nötig, müssen sie der Türkei Einhalt gebieten.
Warum will der türkische Staat eine neue Invasion starten? Was verspricht sich die Regierung in Ankara davon und welche Gefahren bringt ein solcher Angriff mit sich?
Parallel zu den Angriffen der Türkei kommt es wieder vermehrt zu IS-Anschlägen. Die Miliz wird stärker und ihre Bewegungen nehmen zu. Wenn es so weiter geht, wird die Terrorgefahr früher oder später von neuem auf der Bildfläche erscheinen. Das muss sich die internationale Gemeinschaft vor Augen halten. Es ist Zeit, die Beziehungen der AKP/MHP-Regierung und Erdoğans zum IS bewusst wahrzunehmen. Es gibt tausende Beweisen und Indizien in dieser Hinsicht. Der Angriff auf das Gefängnis von Hesekê ist nur ein Beispiel. Jetzt besteht die Gefahr, dass der IS im Auffang- und Internierungslager Hol erneut angreift. Alles hängt mit der Türkei zusammen. Die ganze Welt muss das begreifen.
Die Aggression Erdoğans richtet sich ebenso gegen den Irak. Für all dies
gibt es Gründe. Das AKP/MHP-Regime setzt gerade jetzt auf Krieg, um die
vielfältigen Probleme im Inneren der Türkei zu überdecken. Es hat keine
andere Lösung mehr. Die Türkei wird im Ausnahmezustand regiert. So
sollen die Gegner der politischen Führung ausgeschaltet werden. Das
sollten auch die Völker der Türkei begreifen. Das AKP/MHP-Regime ist der
Feind der Demokratie, der Freiheit, des kulturellen Reichtums, der
Moral und Ethik. Es will das Land durch Dschihadismus und Faschismus
beherrschen. Die immer wieder propagierte Gefahr für die Sicherheit der
Türkei durch den Nordosten Syriens ist eine Mär. Rojava stellte zu
keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für das Land dar. Die Völker der Türkei
sollten diese Tatsache sehen.
In den Gebieten, welche die Türkei angreifen möchte, befinden sich US-Truppen, russische Truppen und Kräfte des Regimes in Damaskus. Haben Sie in diesem Zusammenhang Gespräche geführt?
Bekanntermaßen hält sich das syrische Regime in diesen Regionen aufgrund der Vermittlung von Moskau auf. Russland und die USA sind die Garantiemächte des Deeskalations- und Waffenstillstandsabkommens, das nach dem Krieg um Serêkaniyê und Girê Spî geschlossen worden ist. Natürlich gab es solche Treffen. Es wird über diese Angriffe gesprochen. Bisher können wir nicht sagen, dass sich eine eindeutige Positionierung gegen die Aggression der Türkei abzeichnet. Unsere klare Forderung lautet: Die Garantiemächte müssen ihre Aufgabe erfüllen. Erdoğan greift mit seiner NATO-Armee unsere Regionen und damit eine Kraft an, die sich um eine politische Lösung für Syrien bemüht. Mit diesen Angriffen wird eine Beseitigung der Konflikte in weite Ferne gerückt.
Es ist immer wieder die Rede von einem Gürtel entlang der Grenze. Könnten Sie das ausführen?
Der Gürtel, von dem Erdoğan spricht, umfasst im Wesentlichen die Orte, an denen sich Demokratie entwickelt hat. Es sind die Orte, an denen die Revolution entstanden ist. Hervorzuheben ist, dass es sich um die kurdischen Gebiete Syriens handelt. Erdoğans Phobie vor Kurdinnen und Kurden und der Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in der Region wird damit überdeutlich. Er will das neue Selbstverwaltungsmodell, das in Syrien eine Vorreiterrolle einnimmt, vernichten. Bei der Linie von Dêrik über Tel Rifat bis hin nach Efrîn, von der Erdoğan in Bezug auf seine Pläne spricht, handelt es sich um jene, auf der sich das demokratische System zuerst entwickelt hat und wo schließlich auch das arabische, turkmenische, tscherkessische, armenische und assyrische Volk eine Einheit bildete. Die Region spielte die Führungsrolle. Um die eigenen Ziele zu erreichen, soll dieser Bereich nun vernichtet werden. Erdoğan glaubt, wenn er die kurdischen Gebiete in seine Hand bekäme, würde sich die Gesellschaft von der Revolution abwenden und die Hoffnung auf Freiheit aufgeben.
Wie werden Sie auf mögliche Invasionsangriffe reagieren?
Zweifellos haben alle Institutionen im Nordosten Syriens, insbesondere die legitimen Verteidigungsorganisationen YPG und YPJ sowie die QSD eine wichtige Entwicklung durchlaufen. Durch die Kriege um Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî wurden wichtige Erfahrungen gewonnen, was die Erwiderung von Angriffen und die Verteidigung der Errungenschaften unserer Revolution betrifft. Alle Kräfte haben sich tiefgreifend organisiert. Daher wird sich eine Situation wie in Efrîn, Serêkaniyê oder Girê Spî nicht wiederholen. Wenn es zu einem Angriff kommt, wird es eine direkte Antwort geben.
Was sind die Aufgaben der Gesellschaft?
Unser Volk sollte die Drohungen einer neuerlichen Invasion ernst nehmen und sich entsprechend organisieren. Die Menschen müssen sich vergegenwärtigen, dass die Aggression dieses Feindes nicht enden wird. Das AKP/MHP-Regime wird immer angreifen, sobald es eine Gelegenheit dazu sieht.
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