Interview mit Marlene Förster
Einen Monat saß die Journalistin Marlene Förster in einem irakischen Gefängnis. Seit etwas mehr als einer Woche ist sie wieder daheim in Darmstadt. Im Gespräch mit ANF berichtet sie von ihrer Haft und erzählt, wie es für sie weitergehen soll.
Marlene Förster ist freie Journalistin. Mit ihrem slowenischen Kollegen Matej Kavčič recherchierte die 29-jährige Darmstädterin im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal für einen Dokumentarfilm, als beide am 20. April von irakischen Behörden verhaftet wurden. Erst nach einem Monat kamen sie wieder frei – allerdings nur, um umgehend ausgewiesen zu werden. Im ANF-Interview hat sie über ihre Haft gesprochen.
Von Menschen in Şengal haben wir erfahren, wie froh sie darüber waren, dass ihr dort wart, um über die ezidische Kultur zu berichten. Wie habt ihr diese Kultur erlebt?
Die ezidische Kultur ist eine sehr besondere. Zum einen, weil sie sehr alt ist und immer wieder sehr starken Angriffen ausgesetzt war. Die Ezid:innen sprechen von 74 Genoziden, durch die versucht wurde, sie vollständig auszulöschen. Das ist zwar nicht gelungen ist, hat die ezidische Kultur aber sehr geprägt. Zum anderen – und das ist sehr wichtig – ist die Kultur eine sehr offene, herzliche, friedliche und eng mit der Natur verbundene. Doch die permanenten Angriffe auf die Religion, die Kultur und die Menschen hat in manchen Bereichen dazu geführt, dass sie geschlossen wirkt. Zum Beispiel dürfen Ezid:innen nur Ezid:innen heiraten. Wichtig dabei ist aber zu sehen, dass diese Tatsachen eine Art Selbstverteidigung darstellen und nicht die Grundlage der Kultur ausmachen. Ich denke, ich kann für Matej und mich sprechen, wenn ich sage, dass wir uns unglaublich schnell zu Hause gefühlt haben. Wir haben viele Feste, Feierlichkeiten und Bräuche kennengelernt und miterlebt und waren nie nur Besuch, sondern immer auch Teil davon. Besonders schön zu sehen war auch, wie alte Bräuche und Fähigkeiten, zum Beispiel der Bardengesang Dengbêj¹, am Leben erhalten und den neuen Generationen weitergegeben werden und gleichzeitig jüngeren Menschen auch die Möglichkeit gegeben wird, neue und eigene Arten und Weisen zu entwickeln.
Wie hast du eure Verschleppung aus Şengal durch die irakischen Sicherheitskräfte erlebt?
Direkt bei der Verhaftung war vor allem auffällig, dass Matej und ich als europäische Staatsangehörige erstmal diplomatisch freundlich behandelt wurden – im Gegensatz zu unseren ezidischen Freund:innen. Zu ihnen waren sie von Anfang an sehr grob, unfreundlich und herablassend. Später, als sich dann der Geheimdienst eingeschaltet hatte, hat sich das verändert. Von diesem wurden dann auch wir immer grober behandelt und angeschrien. Da sind dann Sätze gefallen wie: „Wir denken, ihr seid Spione, ihr habt jetzt keine Rechte mehr.“
Wie war eure Haftsituation? Wie wurdest du von den irakischen Behörden behandelt, auch als Frau?
Relativ schnell ist klar geworden, dass sie mit mir anders verfahren als mit meinem Freund und Kollegen Matej. Während er teils physisch bedroht und auch angegangen wurde, stand in Bezug auf mich die psychische Ebene im Vordergrund. Sie haben mich zum Beispiel damit unter Druck gesetzt, dass sie Matej Gewalt antun, wenn ich nicht kooperiere.
Für mich war es sehr schwierig, dass ich einen Monat bis auf ein oder zwei Ausnahmen nur mit Männern zu tun hatte, zu denen ich ja aufgrund meiner Inhaftierung in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis stand beziehungsweise diesen ausgeliefert war. Als Matej und ich noch zusammen waren, haben wir zum Beispiel auch im gleichen Raum geschlafen. Das hat mir auf jeden Fall Sicherheit gegeben. Als ich dann nur noch alleine untergebracht war, hat sich dieses Gefühl stark verändert.
Ein anderer Punkt war die Isolation. Die vom Geheimdienst bewusst geschürten Ängste und die fehlenden Gespräche mit anderen Menschen über diese führen dazu, dass sich die Gedanken im Kopf drehen, was alles noch passieren könnte. Ich konnte mich nur sehr schwer konzentrieren und auch nichts aufschreiben, selbst als ich dann praktisch die Möglichkeit gehabt hätte.
Was mir geholfen hat, war für mich immer wieder zu wiederholen, mit welchen Zielen ich nach Şengal gereist war und die Verantwortung zu spüren, die Menschen dort im Aufbau eines würdevollen und selbstbestimmten Lebens durch meine Berichterstattung zu unterstützen. Auch das Wissen darum, dass die Menschen dort täglich mit Angriffen, Unterdrückung und Ängsten konfrontiert sind und sich davon nicht aufhalten lassen, hat mir immer wieder Kraft geben. Betroffen von der Stärke der Repressionen von Seiten des Irak war ich persönlich ja auch nur einen Monat. Viele kritische irakische Journalist:innen oder Ezid:innen, die in der Selbstverwaltung aktiv sind, müssen ganz andere Konsequenzen für ihre Arbeit in Kauf nehmen.
Auch hat mit sehr geholfen, an die vielen Menschen zu denken, denen wir begegnet sind: an ihre Geschichten, ihre Träume und unsere gemeinsame Zeit. Ein nächstes Projekt von Matej und mir wäre gewesen, Merwan Bedel² zu porträtieren, seine persönliche Geschichte und sein Wirken. Kurz bevor wir im Şengal ankamen, wurde Merwan von einer türkischen Kampfdrohne ermordet. Für unsere journalistische Arbeit hatte ich das Glück, seine Familie kennenlernen zu dürfen und viel über ihn zu erfahren. Er hat während des Genozids gegen den sogenannten IS gekämpft und war dann lange Kommandant in den Selbstverteidigungsstrukturen YB޳. Vor einigen Monaten entschied er sich, seinen Schwerpunkt auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu legen und wurde vergangenen Juli zum Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats in der Demokratischen Selbstverwaltung von Şengal gewählt. Er war eine sehr wichtige Person für seine Gemeinschaft, weil er fest an eine Perspektive für die ezidische Gesellschaft glaubte und mit all seinen Möglichkeiten daran arbeitete. Seine Ermordung hat alle sehr getroffen. Umso mehr ist er zum Vorbild der Menschen und Symbol der Hoffnung geworden. Seine Geschichte und sein Wirken haben mich sehr beeindruckt. Die Gedanken an seine Persönlichkeit und Geschichte haben auch mir immer wieder Hoffnung und Kraft gegeben.
Wenn ich an Şengal und die Menschen, aber auch an zu Hause gedacht habe, war ich traurig, weil ich nicht bei ihnen sein konnte. Aber vor allem war ich auch bewegt von der Verbundenheit, die ich sowohl zu den Menschen in Şengal als auch zu meinen Freund:innen und meiner Familie zu Hause empfand.
Zu meinen Emotionen bezüglich der Haft, den Verhören und den verschiedenen Situationen kann ich wenig sagen. Es scheint ein Selbstschutz zu sein, dass ich in diesen Tagen zum Teil recht wenig empfunden habe. Ich kann nur sagen, dass ich viele Situationen als absurd und sehr durcheinander wahrgenommen habe. Theoretisch auch bedrohlich und beängstigend, aber das habe ich nur gedacht. Gefühle sind selbst in unangenehmen Situationen nie so stark dazu gekommen.
Deine Freud:innen haben eine riesengroße Kampagne losgetreten. Mehr als 50.000 Menschen haben für deine Freilassung unterschrieben, zahlreiche Aktionen haben stattgefunden. Hast du davon etwas mitbekommen und wie geht es dir damit?
Ehrlich gesagt, finde ich gar keine Worte dafür, was meine Freund:innen und meine Familie in so kurzer Zeit alles auf die Beine gestellt haben. Meine Mutter sagte in unserem ersten Telefonat, es sei „gigantisch“, was gerade für die Freilassung von mir und Matej organisiert wird. Ich weiß, dass es für meine Freund:innen und Familie selbstverständlich ist, mich zu unterstützen. Aber das, was sie dann auf die Beine gestellt haben, hat auf jeden Fall alle Vorstellungen von mir übertroffen. Es war auch für sie eine harte und anstrengende Zeit. Daher kann ich gar nicht genug sagen, wie beeindruckt ich von ihnen bin.
Gleichzeitig fällt es mir schwer, mit der großen Öffentlichkeit umzugehen. Ich als Person wollte nie zum Thema werden und in diesem Maße in der Öffentlichkeit stehen. Mir ging und geht es auch weiterhin vor allem darum, über die Situation in Şengal zu berichten, den Fokus auf die Menschen dort zu richten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichten zu erzählen. Und damit dazu beizutragen, dass sie ihr zukünftiges Leben nach ihren Vorstellungen gestalten können. In der Vergangenheit wurde viel über die Ezid:innen gesprochen und bestimmt. Das zieht sich bei heute weiter fort. Es ist einfach an der Zeit, dass sie selbst gehört werden und selbst über ihr Leben und ihre Zukunft entscheiden können.
Meine Familie und Freund:innen wissen, dass mir das besonders wichtig war und ist. Ich denke, sie haben es gut hinbekommen, in der ganzen Öffentlichkeitsarbeit für meine persönliche Freilassung einzustehen, aber diese immer auch mit der Situation in Şengal und damit auch dem Grund, warum ich dort war, zu verbinden. Einige sind ja auch selbst an den Entwicklungen in Kurdistan interessiert und aktiv.
Wie ist die Situation in Şengal und was bedeutet es, dass ihr beide, du und Matej, eure Arbeit nicht fortsetzten könnt?
Es ist klar, dass sich die Situation in Şengal für die Menschen sehr grundsätzlich verändern muss. In einer Atmosphäre der ständigen Angst und Angriffe können Menschen nicht leben. Die permanente Bedrohung durch türkische Luftangriffe, den türkischen Geheimdienst MIT und nicht zuletzt die Angriffe von Seiten des irakischen Staates müssen unterbunden werden, wenn Stabilität und ein sicheres Leben in Şengal möglich sein soll. Bei der Destabilisierung der Region, der Vertreibung, den militärischen Angriffen und der politischen Isolation auf internationaler Ebene spielen nicht nur der irakische Staat und die kurdische Autonomieregion und ihre Absprachen mit dem türkischen Staat eine entscheidende Rolle, sondern auch westliche Staaten. Vor allem auch Deutschland lässt die Angriffe des türkischen Staats nicht nur einfach geschehen, sondern legitimiert diese immer wieder.
Ein weiterer Punkt für die Bevölkerung in Şengal ist, dass der Genozid an den Ezid:innen von vielen Staaten noch immer nicht anerkannt wurde. Eine Anerkennung des Völkermords würde auch eine Akzeptanz der politischen Strukturen der autonomen Selbstverwaltung als auch ihrer Kräfte der legitimen Selbstverteidigung begünstigen. Diese internationale Anerkennung der Selbstverwaltung ist einer der wichtigsten Punkte, der sich verändern muss, wenn es eine Lösung für Şengal und die ezidische Bevölkerung geben soll. Die politischen Eliten müssen aufhören, über die Menschen zu sprechen und zu entscheiden. Die Menschen selbst müssen ihre Interessen vertreten können.
Şengal ist seit Jahrzehnten eines der umstrittenen Gebiete zwischen verschiedenen Machtinteressen. Darunter hat die Bevölkerung schon vor dem letzten Genozid im Jahr 2014 gelitten. Dass die politischen Mächte sich nicht um die Interessen der Bevölkerung kümmerten, ist sehr deutlich geworden, als sich sowohl das irakische Militär, als auch die damals für die Sicherheit der Region zuständigen kurdischen Peschmerga zurückgezogen haben. Nur so konnte der Genozid 2014 überhaupt passieren. Und dieses Verhältnis hat sich bis heute nicht verändert. Doch anders als vor 2014 hat die ezidische Bevölkerung nun eine Perspektive für eine demokratische Selbstverwaltung, durch welche auch ihre ganz direkte Sicherheit in ihren eigenen Händen liegt. Ein Satz, der mir sehr in Erinnerung geblieben ist und den wir sehr oft gehört haben, ist: „Was unsere Kultur und Gemeinschaft betrifft, vertrauen wir nur noch uns selbst. Deshalb brauchen wir unsere eigenen Strukturen, sowohl politisch, als auch zu unserer Verteidigung. Das ändert nichts daran, dass wir eine offene und friedliche Gesellschaft sind und uns ein gutes Zusammenleben mit den verschiedenen Kulturen und Religionen in der Region wünschen.“
In der Zeit unserer Recherchen in Şengal haben wir viel über anstehende gemeinsame Projekte der arabischen und ezidischen Bevölkerung erfahren können, wie etwa Planungen für einen mehrsprachigen Fernsehsender und Radioprogramme. Doch auch dieser Zusammenhalt der Bevölkerung über verschiedene ethnische und religiöse Identitäten hinweg wurde immer wieder bewusst durch den irakischen Staat angegriffen. So hat das irakische Militär begonnen, die arabischen Dörfer von den ezidischen Dörfern durch den Bau eines Zauns voneinander zu trennen und auch die Grenze zwischen Şengal und den Gebieten der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, das wir auch als Rojava kennen, durch eine kilometerlange Mauer zu schließen. Vorgeschobene Gründe des Irak waren die erneuten Angriffe des sogenannten IS in Hesekê Anfang des Jahres. In den vielen Interviews, die wir mit den Menschen vor Ort führten, betonten sie jedoch immer wieder, dass es vor allem darum geht, die immer stärker zusammenwachsenden Gesellschaften in Şengal wieder voneinander zu trennen und die Region wirtschaftlich stärker zu isolieren.
Dass Matej und ich nicht mehr vor Ort sind, ist ein Schlag gegen eine kritische Berichterstattung und auch gegen den Wunsch der Menschen in Şengal, über ihre Erfahrungen und die politische Situation zu berichten. Und natürlich hat die Verhaftung unsere persönliche Arbeit verhindert. Gleichzeitig werden wir versuchen, unsere Berichterstattung mit den Materialien, die wir bisher haben, von hier aus weiterzuführen. Außerdem wollen wir bei weiteren Journalist:innen und Medienschaffenden ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Berichterstattung in Bezug auf die Situation der Ezid:innen stärken.
¹ Der Dengbêj-Gesang ist der wichtigste Teil der traditionellen kurdischen Musikkultur. Mit diesem Namen werden Sänger:innen benannt, die Gedichte, Epen und historische Ereignisse der oralen kurdischen Literatur in Form von Liedern wiedergeben. Das Wort leitet sich aus deng (Stimme) und bêj (sagen, sprechen) her. Für das kurdische Volk gilt die orale Literatur als Autobiografie der Gesellschaft, daher werden Dengbêj auch als Historiker:innen betrachtet.
² Merwan Bedel war Ko-Vorsitzender des Exekutivausschusses im Autonomierat von Şengal. Am 7. Dezember 2021 wurde er bei einem gezielten Drohnenangriff des türkischen Staates auf sein Fahrzeug in Xanesor ermordet. Zwei seiner Kinder, die sich ebenfalls in dem Wagen befanden, konnten gerettet werden.
³ Yekîneyên Berxwedana Şengalê, kurz YBŞ (deutsch Widerstandseinheiten Şengals), sind die Selbstverteidigungskräfte im ezidischen Kerngebiet Şengal, die unter dem Eindruck des Genozids der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im August 2014 von Überlebenden aufgebaut wurden.
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