Die Kurden, Skandinavien und die NATO

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Am Montag hat der türkische Präsident Erdogan mit einem erneuten Einmarsch in Syrien gedroht. Ziel sei eine 30 Kilometer lange Sicherheitszone entlang der türkischen Grenze zu Syrien. © TRT


Amalia van Gent /  Erdogan setzt NATO unter Druck: Als Preis für die Norderweiterung sollen die Kurden auf dem Altar der Geopolitik geopfert werden.

Ist die Türkei noch ein verlässlicher Partner der westlichen Allianz? Oder fungiert sie eher als ein verkapptes trojanisches Pferd Russlands innerhalb der NATO? Diese Fragen spalten die westliche Welt, seit die Türkei Mitte Mai dem NATO-Beitritt von Schweden und Finnland mit ihrem Veto einen Riegel vorgeschoben hat. Dabei stellte der Beschluss beider skandinavischer Länder, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben, eine der dramatischsten Veränderungen in der Sicherheitspolitik Europas dar. Die Allianz habe «den legitimen Sicherheitsbedenken Ankaras mit konkreten Schritten» Rechnung zu tragen, begründete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einer verblüfften NATO-Runde sein Veto. Unmissverständlich stellte er klar: Wollten die Beitrittskandidaten ihren Beitritt «erwirken», müssten sie zuvor eine Liste von Ankaras Forderungen erfüllen.

Auslieferungen von Dissidenten

Diese Liste beinhaltet eine Freigabe von Waffenexporten in die Türkei. Finnland, Schweden und andere europäische Länder hatten 2019 ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt, weil die türkische Armee in den kurdischen Nordosten Syriens einmarschiert war, kurdische Städte und Dörfer zerstörte, abertausende Zivilisten in die Flucht trieb und damit krass gegen das Völkerrecht verstiess.

Zu den Forderungen der Türkei gehört ferner die Auslieferung «von 28 Terrorismusverdächtigen aus Schweden und 12 aus Finnland». Es gebe «keine rechtliche oder juristische Grundlage», diese nicht auszuliefern, fügte eine Woche später der einflussreiche Pressesprecher des Präsidenten, Ibrahim Kalin, hinzu.

In der regierungsnahen türkischen Presse kursieren inzwischen die Namen von acht Personen, auf deren unbedingte Auslieferung Ankara besteht: Ragip Zarakolu gehört dazu. Als linksliberaler Verleger trat Zarakolu seit den 1980er Jahren für eine Versöhnung der Türkei mit ihren armenischen und griechischen Nachbarn auf und setzte sich für die Rechte der Kurden ein. Zarakolu sass mehrmals im Gefängnis, mal, weil er die Weigerung der offiziellen Türkei anprangerte, die Identität ihrer rund 15 Millionen zählenden kurdischen Minderheit anzuerkennen, dann wieder, weil sein Verlag Bücher mit angeblich unliebsamen Inhalten veröffentlichte. Mit «terroristischen Handlungen» wurde Zarakolu aber bis heute nie in Verbindung gebracht.

Ausgeliefert werden soll ferner der Journalist Bülent Kenes. Als Chefredaktor leitete dieser zeitweise die Zeitung Zaman des Predigers Fethullah Gülen. Gülen und Erdogan teilten sich um die Jahrtausendwende die Macht über die Bewegung des politischen Islam in der Türkei, doch Ende 2013 kam es zwischen den beiden zum grossen Bruch. Nach dem gescheiterten Staatsstreich im Sommer 2016 beschuldigte Erdogan seinen ehemaligen Weggefährten, den Putschversuch mit Anhängern seiner Gülen-Bewegung geplant und durchgeführt zu haben. Fortan wanderten Fethullah-Anhänger zu Abertausenden ins Gefängnis – oft mit willkürlichen Begründungen –, weitere wurden im grossen Stil enteignet. Bülent Kenes gelang die Flucht nach Schweden.

Cengiz Candar, ein renommierter Nahost-Experte und einflussreicher türkischer Journalist, der ebenfalls im Exil in Schweden lebt, ermahnt die Regierung seiner neuen Heimat, sie dürfe den Forderungen Ankaras nicht nachgeben. Dissidente auszuliefern, käme einer Aushöhlung des Rechtsstaats in Schweden gleich, schrieb er auf der Internetplattform Al Monitor. Würde man Erdogans Forderungen nachgeben, wäre dies, als ob die NATO beabsichtigte, «einem Autokraten die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Zukunft der westlichen Demokratie zu überlassen».

Spaltung in der NATO

Ist die Türkei überhaupt NATO-konform? Diese Frage hat das vom Krieg in der Ukraine verunsicherte Bündnis in zwei Lager gespalten. Eine Gruppe um den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg will «Verständnis» für die Einwände der Türkei zeigen: «Kein anderer NATO-Verbündete hat mehr terroristische Angriffe erlitten als die Türkei und kein anderer NATO-Verbündete nimmt mehr Flüchtlinge auf als die Türkei», betonte er letzten Mittwoch in Spanien. Jens Stoltenberg trat in unterschiedlichen Konflikten oft wie ein Botschafter der Türkei auf: Dass die türkische Armee dreimal völkerrechtswidrig in den Norden Syriens einmarschiert ist und Teile des Nachbarlandes annektiert hat, übersah er gerne. Er schwieg auch eisern, als die türkische Luftwaffe den Nordirak grossflächig bombardierte. Die Türkei sei schon aufgrund ihrer geostrategischen Lage ein «wichtiger NATO-Verbündeter», wiederholt er bei jeder Gelegenheit. Stoltenberg soll Finnland und Schweden ermutigt haben, Ankara entgegenzukommen. Für eine «Einigung» der NATO-Kandidaten und der Türkei soll sich auch der US-Aussenminister Antony Blinken ausgesprochen haben.

In der Brüsseler NATO-Zentrale sind die Stimmen der «Nein-Sager» ebenso laut: Die türkische Regierung halte alle 29 NATO-Mitglieder und die zwei Kandidaten in Geiselhaft, empörte sich etwa Stefanie Babst, eine ehemals hochrangige Beraterin der NATO. «Ich halte es persönlich für absolut inakzeptabel.» Allgemein teilt man in Brüssel die Meinung, dass die Ukraine-Krise Erdogan einen neuen Spielraum für «Basar-Verhandlungen» verschafft habe, und dass er diesen Spielraum auch grosszügig ausnütze. Auch hier warnt man vor einer Aushöhlung der bislang unangefochtenen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Schweden und Finnland.

Die Türkei sei zwar Mitglied der NATO, aber unter Präsident Erdogan bekenne sie sich nicht mehr zu den Werten, die diesem grossen Bündnis zugrunde liegen, stand in einem Meinungsartikel im Wall Street Journal vom 18. Mai. Der Artikel schloss mit dem Vorschlag: «Vielleicht ist es an der Zeit, ein Verfahren für den Ausschluss eines Mitgliedstaates einzuführen.»

Neue «Operation» in Nordsyrien

Der türkische Präsident brüstet sich gerne damit, auf dem internationalen Parkett hoch zu pokern. So kündigte er Anfang Woche eine neue «Operation» im kurdischen Nordosten Syriens an. Ziel sei es, «eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone entlang der südlichen Grenze zu schaffen», erklärte er nach einer Kabinettssitzung – und löste damit in Washington, in Brüssel und in Stockholm neue Schockwellen aus. Erdogan benutze «Schweden und Finnland als Vorwand, um Joe Biden herauszufordern», urteilte Yavuz Baydar, Chefredaktor der Internetplattform Ahval. Auch die Ankündigung der neuen Operation in Syrien soll nach Ansicht von Baydar vor allem Biden treffen.

Die Beziehung der zwei mächtigen Männer ist tatsächlich schwierig. Erdogans enger Freund in Washington war Donald Trump. Wie kein anderer ausländischer Politiker nahm Erdogan sich das Recht heraus, Trump regelmässig anzurufen, um sich mit ihm auszutauschen. Entsprechend problematisch entwickelte sich die Beziehung des türkischen Präsidenten zu Joe Biden. Biden hat Erdogan nie nach Washington eingeladen oder in Ankara besucht. Und Biden machte auch nie einen Hehl daraus, dass er Erdogan für einen Autokraten hält. Erdogan seinerseits wirft Biden vor, im syrischen Nordosten die «Terroristen» der kurdischen Milizeinheiten der YPG zu unterstützen und damit die Sicherheit der Türkei zu gefährden.

Die USA und Schweden pflegen seit 2015 in der Tat gute Beziehungen zur YPG. Die Regierungen in Washington und Stockholm haben nicht vergessen, dass es vor allem Frauen und Männer der YPG waren, die den Kampf gegen die IS-Terrormiliz geführt und gewonnen haben. Sie hegen Sympathien gegenüber dieser Partei, die in ihren politischen Strukturen eine Frauenquote von 40 Prozent eingeführt hat – für den Nahen Osten ein absolutes Novum.

Im Gegensatz zu den USA betrachtet Ankara die YPG jedoch als Terrorgruppe und fordert ihre Alliierten auf, die syrische YPG wie auch die kurdische Arbeiterpartei PKK zu verbieten. Die PKK, die in der Türkei seit 1984 einen bewaffneten Kampf für eine Autonomie der kurdischen Minderheit des Landes führt, wird in den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft. Am späten Donnerstagabend hat der mächtige Sicherheitsrat der Türkei grünes Licht für die «neue Operation» in Syrien gegeben.

Zur Verhandlungsmasse verkommen

Es sei eine Tatsache, dass «unser Volk einmal mehr in seiner Geschichte zur Verhandlungsmasse verkommt», kommentierte bitter die kurdische Selbstverwaltung Nordostsyriens (Rojava). «Die Türkei spricht von einer Sicherheitszone, die das Leben von Millionen von Menschen gefährdet und eine humanitäre Katastrophe verursachen könnte», erklärte Ilham Ahmed, Rojavas de-facto Aussenministerin, gegenüber der Internetplattform Al Monitor. Erdogan spreche von einer 30 Kilometer tiefen Sicherheitszone entlang der gemeinsamen Grenze. Abgesehen von den grossen kurdischen Städten Kamisli, Kobani und Manbij befinden sich in dieser Zone auch Gefängnisse, in denen Tausende von IS-Mitgliedern festgehalten werden. Ilham Ahmed sprach von eine «Katastrophe für die internationale Sicherheit», sollten diese Gefängnisse angegriffen werden.

James Jeffrey, ehemaliger US-Botschafter in der Türkei und oberster Syrien-Beauftragter der Trump-Regierung, warnte vor der Gefahr einer «unkontrollierten Eskalation»: «Um eine 30 Kilometer tiefe Zone zu schaffen, müssten die türkischen Truppen Gebiete einnehmen, in denen sich russische Streitkräfte befinden», also Krieg mit den Russen führen – ein Horrorszenario.

Die Kurden in Nordostsyrien und der Türkei bereiten sich jedenfalls auf den neuen Krieg vor. Sie sind sich darin einig, dass die Türkei einen radikalen demografischen Wandel im Grenzgebiet anstrebe: Die Kurdinnen und Kurden werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und werden durch syrische Flüchtlinge aus der Türkei ersetzt, lautet ihre Schussfolgerung. Von einer «ethnischen Säuberung» spricht auch Damaskus.

«Es nützt nichts, wenn westliche Länder die Türkei in Sachen Demokratie belehren oder die Türkei sich über die westliche Heuchelei beschwert», kommentiert Cihan Tugal, Professor für Soziologie an der Universität von Kalifornien, in einem Gastbeitrag für die New York Times am Donnerstag. «Sie stecken alle unter einer Decke. Was auch immer mit der Erweiterung des Bündnisses geschieht – ob die Kurden auf dem Altar der geopolitischen Zweckmässigkeit geopfert werden oder nicht – dies sollte ein Moment der Klarheit sein. In einer Welt des Kriegs hat kein Land ein Monopol auf Gewalt.»

Eine der grössten Tragödien unserer Zeit ist, dass man nicht alles daran gesetzt hat, um den drohenden Krieg in der Ukraine zu verhindern. Wird derselbe Fehler auch an der syrisch-türkischen Grenze wiederholt?


 

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