Syrischer Schattenkrieg


konicz.info, 07.02.2022

Versuch einer geopolitischen Einordnung der jüngsten Eskalation in Rojava und Nordsyrien.

Rojava, die Selbstverwaltung in Nordsyrien, wurde ende Januar abermals zu einem Schlachtfeld. Der Großangriff des Islamischen Staates (IS) auf das Gefängnis in Hasakah, in dem Tausende IS-Terroristen inhaftiert sind, war kein bloßer Versuch einer Gefangenenbefreiung, er nahm den Charakter eines Aufstandsversuchs an.1 Mehr als 100 Militante des IS waren an dem Angriff beteiligt, der mehrtägige, blutige Gefechte im Gefängnis und in angrenzenden Stadtteilen zur Folge hatte. Der Islamische Staat schaffte es, das Gefängnis zu stürmen und die gefangenen Islamisten zu bewaffnen. Im Verlauf der Kämpfe wurden Tunnel entdeckt, die von den umliegenden Häusern ins Gefängnis gegraben wurden. Die Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF), das Militärbündnis der Selbstverwaltung in Nordsyrien (Rojava), beklagten nach den schweren Gefechten 40 gefallene SDF-Kämpfer, 77 gefallene Gefängniswärter und vier tote Zivilisten. Insgesamt sollen 374 IS-Terroristen bei den Kampfhandlungen Ende Januar getötet worden sein.2

Die mehrtägigen Kämpfe kamen letztendlich einer Machtdemonstration des IS gleich, die gründlich und von langer Hand vorbereitet war. Die massenmörderische Terrormiliz, verantwortlich unter anderem für den Genozid an den Jesiden Nordiraks,3 hat mit dem Angriff zugleich ihre weiterhin gegebene Schlagkraft unter Beweis gestellt4. Letztendlich sollte mit dem Kämpfen die Legitimität der bei Islamisten und regionalen Regimes gleichermaßen verhassten, basisdemokratischen Selbstverwaltung in Nordsyrien untergraben werden.

Dass solche groß angelegten militärischen Operationen nicht ohne Unterstützung von außen erfolgen können, machten Erklärungen der Selbstverwaltung kurz nach dem Ende der Kämpfe deutlich, in denen die Unterstützung durch „regionale Mächte“ dafür verantwortlich gemacht wird, dass der IS seine „Kräfte für einen Anschlag mit diesem Ausmaß zusammenziehen“ konnte.5 Die Rolle des türkischen Staates sei dabei die „bedeutendste“, er trage die „Hauptverantwortung“ für die Attacke. Es habe im Vorfeld des Angriffs auf Hasakah eine enge geheimdienstliche Kooperation zwischen Syrien und der Türkei gegeben, da beide Regimes ein Interesse daran hätten, die Selbstverwaltung in Rojava zu destabilisieren, hieß es seitens kurdischer Aktivisten in Nordsyrien. Festgenommene IS-Terroristen hätten ausgesagt, dass der IS-Angriff erst durch die Unterstützung des syrischen und insbesondere türkischen Staates in dieser Dimension ermöglicht wurde. Hinzu komme noch die finanzielle Unterstützung der islamistischen Kräfte durch die Türkei, Katar und Saudi Arabien.

Türkische Vergeltungsangriffe?

Wie zur Bestätigung dieser Anschuldigungen begann die türkische Armee Anfang Februar mit groß angelegten Angriffen auf Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien und dem Nordirak.6 Zeitgleich attackierten mit der Türkei verbündete islamische Milizen, in denen sich oftmals schlicht ehemalige IS-Kämpfer wiederfinden, die Selbstverwaltung in Nordsyrien.7 Wenige Tage nach dem Sieg der SDF gegen den IS in Hasakah, als die Begräbnisse für die gefallenen Kämpfer noch im Gang waren, setzte somit ein regelrechtes Massenbombardement ein, an dem Dutzende Kampfflugzeuge beteiligt waren. Die türkische Luftwaffe griff dabei auch Dörfer der Jesiden im Irak an, die dem Genozid des IS entkommen konnten.8 Auch Wohngebiete der christlichen Minderheit in Tel Tamir, in dem Selbstverwaltungsgebiet im Nordosten Syriens, wurden unter Feuer genommen.

Die Selbstverwaltung Rojavas erklärte in einer Stellungnahme zu den Angriffen auf ihr Territorium, dass die Türkei die jüngste Niederlage des Islamischen Staates in Hasakah nicht akzeptieren könne.9 Die Bombenkampagne solle die „Stabilität der Region“ unterminieren und hierdurch dem IS „den Weg ebnen“, hieß es in der Erklärung, die zugleich „Russland und die Vereinigten Staaten“ an den Waffenstillstand erinnerte, der eigentlich zwischen Rojava und dem türkischen Staat herrschen sollte. Die SDF wurden in einer Erklärung10 deutlicher, indem sie die US-geführte „internationale Koalition“ gegen den IS beschuldigten, den Luftraum für die türkischen Kriegsflugzeuge freigegeben zu haben. Nur acht Stunden, nachdem die US-Koalitionskräfte in einer Erklärung ihre „Solidarität mit den Partnern der SDF“ erklärten und deren Tapferkeit beim Kampf gegen den IS in Hasakah lobten, startete der Nato-Partner Türkei seine Bombenkampagne gegen die Selbstverwaltung.

Der Hintergrund: Die USA kontrollieren faktisch den Luftraum über Nordsyrien, sodass die türkischen Angriffswellen nicht ohne deren Kenntnisnahme und zumindest Tolerierung ablaufen konnten. Das bedeutet letztendlich, dass die US-Kräfte, die auch bei den jüngsten Kämpfen in Hasakah die SDF unterstützten, wenige Tage später schlicht zusahen, wie sie von der Türkei und verbündeten Islamisten massiv in einer militärischen Kampagne beschossen wurden, die alle Charakterzüge eines Vergeltungsangriffs trug. Dem Großangriff des IS – der laut syrischen Kurden von Ankara unterstützt wurde – folgte die Bombenkampagne der türkischen Luftwaffe.

Der IS im türkischen Hinterhof

Wenige Tage nach der türkischen Angriffswelle, am 2. Februar, folgte ein Coup in Idlib, der durchaus als eine Reaktion Washingtons interpretiert werden kann. Bei einem Spezialkräfteeinsatz unweit der türkischen Grenze, nur wenige Kilometer von dem Ort, wo der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi im Oktober 2019 getötet wurde, hat dessen Nachfolger, Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi, sich samt etlichen Familienangehörigen in die Luft gesprengt, um dem Zugriff einer US-Spezialeinheit zu entgehen. Idlib wird von der Türkei kontrolliert, die Region im Nordwesten Syriens gilt als das „Pflaster der Türkei“, wie es der Independent11 formulierte. Hier sind all die von Ankara, Katar und Riad finanzierten islamistischen Milizen zusammengezogen worden, die im Bürgerkreig gegen das Assad-Regime unterlegen waren.

Formell hat die Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) – die aus dem syrischen Ableger der Al-Kaida, der Nursa Front, hervorgegangen ist – in dieser poststaatlichen Region das Sagen, doch effektiv handelt es sich um eine inoffizielle Besatzungszone der Türkei. Die HTS, geführt von einem ehemaligen Al-Kaida Führer, wird von dem Nato-Partner Türkei letztendlich mit der Verwaltung ihrer Besatzungszone in Nordsyrien betraut, während die USA diese Islamisten, deren Vorgängerorganisation für den Angriff auf das World Trade Center verantwortlich war, als Terrororganisation einstufen.

The Independent fragte unter Berufung auf kurdische Aktivisten, ob Ankara tatsächlich nur inkompetent war, oder ob dem IS-Führer willentlich in der Region Unterschlupf gewährt wurde. Der US-Einsatz in Idlib lasse die Türkei in die Defensive geraten, schlussfolgerte die britische Zeitung. Die Jerusalem Post (JP) bezeichnete das Timing der Ereignisse schlicht als „bizarr“.12 US-Spezialeinheiten hätten, nur wenige Tage nach dem IS-Aufstand in Hasakah, abermals einen IS-Führer an einem Ort ausgeschaltet, der nur „wenige Kilometer von der Grenze mit der Türkei“ entfernt ist.

Wie es möglich sei, dass mit Al-Bagdadi und seinem Nachfolger „zwei der meistgesuchten Männer der Welt“ in unmittelbarer Nähe der Türkei leben konnten, sei eine Frage, die weder Washington noch die Nato beantworten werden, bemerke die JP süffisant. Al-Quraischi lebte nur 500 Meter unweit eines Checkpoints der HTS, bis zu nächsten türkischen Polizeistation an der Grenze seien es zwei Kilometer gewesen, die nächste türkische Militärbasis in Idlib war nur fünf Kilometer entfernt. Es sei klar, weshalb die Führer des IS diesen Unterschlupf ausgewählt haben, so die JP, doch selbst US-Medien wie CNN blendeten diese Vorgänge im türkisch-syrischen Grenzgebiet bei ihrer Berichterstattung aus. Ähnlich verhalte es sich mit den ethnischen Säuberungen in Afrin, die der Nato-Partner Türkei – weitgehen von der westlichen Öffentlichkeit ignoriert – durchführen könne.

Somit lässt sich folgende Ereignisabfolge konstatieren: Ende Januar führt der IS einen Großangriff in Hasakah durch. Kurz nach dessen Scheitern greifen türkische Kampfflugzeuge und Islamisten die Selbstverwaltung und kurdische Flüchtlingslager in Syrien und dem Irak an. Ein paar Tage später schaltet Washington den IS-Führer im syrischen Hinterhof Ankaras aus. Die Erklärungen kurdischer Aktivisten und Organisationen, wonach die Türkei den IS weiterhin unterstütze, um die Selbstverwaltung in Nordsyrien zu destabilisieren, scheinen somit plausibel zu sein.

Im Schatten der Ukraine-Krise

Doch wieso lassen die USA die türkische Luftwaffe in Nordsyrien überhaupt operieren und ihre Terrorangriffe durchführen, wieso kann sich Ankara abermals als faktische Luftwaffe des IS betätigen? Die Antwort scheint simpel: Es liegt im Interesse Washingtons. Die USA wollen zwar den Islamismus in der Region eingedämmt sehen, doch eine weitaus größere Priorität genießt derzeit die Ukraine und der damit einhergehende Kampf um die Destabilisierung der russischen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum. Und hier gilt die Türkei – aufgrund der geopolitischen Interessensüberstimmung mit den USA – derzeit als ein Musterverbündeter.

Der „nicht immer zuverlässige“ Nato-Verbündete sei dabei, dei Ukraine mit seinen Angriffsdrohnen zu bewaffnen, berichtete jüngst etwa die New York Times (NYT).13 Diese Waffensysteme, die schon bei den Kriegen in Libyen und im Südkaukasus zum Einsatz kamen, könnten die „Militärbalance“ in der Region zugunsten Kiews kippen, so die NYT, da türkische Bayraktar TB2-Drohnen bereits Stellungen der Separatisten in der Ostukraine erfolgreich angegriffen hätten. Bei einer Staatsvisite in Kiew konnte Erdogan gar einen umfassenden Rüstungsdeal abschliessen, der die Produktion türkischer Kampfdrohnen in der Ukraine vorsieht.

Damit treibt der türkische Staatschef sein geopolitisches Vabanque-Spiel14 zwischen Ost und West auf die Spitze, bei dem Ankara bemüht ist, die Großmächte Russland und USA gegeneinander auszuspielen, um seinen neo-osmanischen Expansionsträumen in der Region näher zu kommen. Kooperation und Konfrontation wechseln sich in den Beziehungen zwischen Moskau und Ankara immer schneller ab: von Stellvertreterkriegen in Syrien, Libyen und im Südkaukasus, über die Hochrüstung der Ukraine, bis zum gemeinsamen Bau von Atomkraftwerken, dem Kauf russischer Luftabwehrsysteme und türkisch-russischen Pipelineprojekten im Schwarzen Meer.

Derzeit schwingt das Pendel der türkischen Schaukelpolitik aber Richtung Westen. Ankara sammelt derzeit in der Ukraine fleißig Nato-Treuepunkte, die das Erdogan-Regime dann in größere militärische Spielräume in Nordsyrien umzumünzen versteht. Washington nimmt die Angriffe gegen die Kurden Nordsyriens in Kauf, weil man sich von dem Engagement der Türkei in der Ukraine eine höhere geopolitische Dividende verspricht. Die jüngste Eskalation in Nordsyrien, bei der Ankara abermals den islamistischen Terror für seine imperialen Ambitionen zu instrumentalisieren schien, erfolgte somit im Schatten der Ukraine-Krise.

Die Reaktion der USA auf die türkischen Angriffe erfolgte offensichtlich indirekt, indem bei dem Angriff gegen die IS-Führung in Idlib die Kooperation Ankaras mit islamistischen Massenmordmilizen offenbar wurde. Nur wenige Tage nach dem Tod des IS-Chefterroristen reiste übrigens aufgerechnet der türkische Innenminister nach Idlib – er bewegte sich auf dem syrischen Staatsgebiet unter dem Schutz der HTS-Miliz.15

Die Selbstverwaltung in Rojava befindet sich derzeit in der Defensive, im blanken Überlebensmodus, um den Kern dieses emanzipatorischen Ansatzes inmitten der imperialistischen Staatsmonster zu bewahren. Dies wird wohl bis zum nächsten großen Krisenschub des spätkapitalistischen Weltsystems so bleiben, der eventuell abermals Chancen für emanzipatorische Bewegungen in der sozioökonomisch zerrütteten Region eröffnen könnte. Die wütenden Angriffe der türkischen Soldateska und verbündeter Islamisten könnten gerade darauf hinweisen, dass das Erdogan-Regime sich seiner eigenen Instabilität durchaus bewusst ist – und folglich alles daran setzt, emanzipatorische Ansätze vorher auszuschalten. Der nächste Krisenschub, die unausweichlich anstehende Entwertung des Werts, scheint angesichts global zunehmender Inflation – insbesondere angesichts einer Inflationsrate von 50 Prozent in der Türkei – nicht mehr weit entfernt zu sein.

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4 https://www.dw.com/de/der-islamische-staat-geschw%C3%A4cht-aber-immer-noch-gef%C3%A4hrlich/a-60548575

5 https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/abschliessende-bilanz-der-qsd-zu-heseke-30572

6 https://www.spiegel.de/ausland/tuerkei-bombardiert-kurdische-ziele-in-syrien-und-irak-a-c7eebcc9-da27-48c8-9b47-97c8c785cc5e

7 https://twitter.com/RojavaIC/status/1488904499699888137

8 https://twitter.com/YpgInt/status/1488892048891695107

9 https://anfenglishmobile.com/rojava-syria/autonomous-administration-turkey-could-not-accept-the-defeat-of-isis-57882

10 https://twitter.com/RojavaIC/status/1488927181686427655

11 https://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/isis-leader-us-raid-syria-turkey-b2007963.html

12 https://www.jpost.com/international/article-695561

13 https://www.nytimes.com/2022/02/03/world/europe/ukraine-turkey-russia-drones.html

14 https://www.heise.de/tp/features/Erdogans-geopolitisches-Vabanque-Spiel-3986059.html

15 https://npasyria.com/en/72186/

 

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