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Heyva Sor a Kurd: „Es war niemand mehr da, und wir mussten handeln!“


Fee Baumann ist internationale Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurd in Nordostsyrien. Im Gespräch mit Gisela Rhein gibt sie einen Einblick in die Aufgaben und Herausforderungen der NGO unter dem Eindruck von Krieg, Embargo und dem IS.

Überall in Nord- und Ostsyrien ist die Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurd sichtbar: Ambulanzwagen auf den Straßen, mobile Teams im Einsatz gegen Corona, Notfallteams bei Veranstaltungen. Warum wurde Heyva Sor a Kurd gegründet, mit welchen Aufgaben und Herausforderungen sieht sich diese im Gebiet der demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens aktive Organisation konfrontiert? Über diese Fragen hat Gisela Rhein für den Kurdistan-Report mit Fee Baumann, Mitarbeiterin von Heyva Sor a Kurd, gesprochen.

Heyva Sor a Kurd wird häufig gleichgesetzt mit Heyva Sor a Kurdistanê, es sind aber zwei voneinander unabhängige Organisationen. Warum wurde hier im Autonomiegebiet Nord- und Ostsyriens eine eigene Organisation gegründet?

Wir sind eine junge Organisation. 2012, nach Abzug des syrischen Regimes aus der Region, hat sich eine Gruppe engagierter Menschen ehrenamtlich zusammengefunden, um die medizinische Notfallversorgung nicht vollständig wegbrechen zu lassen. Sieben Personen haben mit einem Krankenwagen, auch an den Kriegsfronten, ihr Möglichstes getan. Die Selbstverwaltung war zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, diese Aufgabe zu schultern. Mit dem eskalierenden Krieg wuchs auch der Bedarf an medizinischer Versorgung, und immer mehr Menschen haben sich ohne Bezahlung engagiert. Viele der Freiwilligen hatten keine medizinische Ausbildung. 2014 gelang es der NGO Cadus eine Delegation zu schicken, deren Mitglieder unseren Freiwilligen eine Grundausbildung in medizinischer Notfallversorgung anbieten konnten.

Offiziell gegründet wurde Heyva Sor a Kurd als gemeinnützige Organisation (non-profit) erst später. Es war wichtig eine Organisation aufzubauen, die über das notwendige Wissen der Verhältnisse vor Ort verfügt und auch hier ihren Sitz hat. Nur so können wir als kompetente lokale Partner internationaler NGOs fungieren und gemeinsam mit der Selbstverwaltung eine medizinische Versorgung der Bevölkerung gewährleisten.

Natürlich gibt es eine enge und sich gegenseitig unterstützende Zusammenarbeit mit Heyva Sor a Kurdistanê in Europa. Spendensammlungen in Europa helfen uns zum Beispiel sehr bei unserer Arbeit hier. Aber in Europa wird Heyva Sor a Kurdistanê oft Terrorismusnähe unterstellt und die Organisation kriminalisiert, was logischerweise die Arbeit dort und auch die Zusammenarbeit erschwert.

Heyva Sor a Kurd ist inzwischen neun Jahre alt. Wie hat sich die Arbeit verändert? Sind neue Aufgaben dazugekommen? An welchen Orten ist Heyva Sor a Kurd heute dauerhaft präsent?

Die Organisation ist sehr viel größer geworden und steht vor neuen Aufgaben. Heute ist nicht nur ein Krankenwagen im Einsatz, sondern es sind inzwischen 60. An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, wie sehr Heyva Sor a Kurd gewachsen ist.

Unser Verwaltungszentrum ist in Qamişlo, und Niederlassungen gibt es in allen Regionen Nord- und Ostsyriens in Kooperation mit den Verwaltungen vor Ort. Überall im Land verteilt finden sich Ambulanzen zur Notfallversorgung, Kliniken in Hesekê, Raqqa, Tabqa, Dêrik, Minbic, Kobanê, Deir ez-Zor und in allen Flüchtlingscamps und mobile Kliniken, die die ländliche Bevölkerung versorgen, vor allem schwangere Frauen und Kinder, und bei Bedarf Geburtshilfe leisten.

Das Krankenhaus in Til Temir musste aufgegeben werden aus Geldmangel und wegen der ständigen Angriffe der Türkei. Diese Entscheidung fiel uns sehr schwer, denn das Krankenhaus war sehr wichtig für die Bevölkerung. Eine aktuell neue Aufgabe in Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung ist die Organisation und Durchführung der medizinischen Versorgung, der Prophylaxemaßnahmen und der Testzentren im Rahmen der Corona-Pandemie. Zusätzlich zu den Testzentren gibt es mobile Testteams, die bei Bedarf zu den Familien nach Hause fahren.

Die im April 2018 eröffnete Klinik in Til Temir war nach der argentinischen Ärztin und Internationalistin Alina Sanchez benannt worden, die bei den YPJ den Namen „Lêgerîn Çiya“ trug. Sie starb am 17. März 2018 bei einem Verkehrsunfall in Hesekê.

 

Welche Aufgaben im Gesundheitssystem Nord- und Ostsyriens übernimmt Heyva Sor a Kurd?

In Absprache und Kooperation mit der Selbstverwaltung übernehmen wir viele Aufgaben, die zum Beispiel in Deutschland vom öffentlichen Gesundheitssystem abgedeckt werden. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien und wir stehen nie in Konkurrenz zueinander. Aber angesichts der Fülle notwendiger Aufbauarbeiten in unserer Region verfügt die Autonomieverwaltung nicht über ausreichend finanzielle und strukturelle Kapazitäten, um schon jetzt ein umfassend funktionierendes Gesundheitssystem aufzubauen. Wir sprechen hier von einem Aufbau von Null an. Und hier übernimmt unsere Organisation Verantwortung bis das öffentliche Gesundheitssystem ausreichend funktioniert.

Die zentrale Aufgabe einer Rotkreuzorganisation ist die Notfallversorgung. Diese Aufgabe ist auch unsere Basis und wird unsere Aufgabe bleiben, nachdem die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch die Selbstverwaltung übernommen werden kann. In unseren Emergency-Zentren (Notfallzentren) in allen größeren Kommunen stehen Ambulanzwagen und Notfallteams 24 Stunden bereit. Hier bekommen die Patient:innen eine erste Versorgung, und wenn notwendig werden sie stabilisiert, bis sie in ein Krankenhaus gebracht werden können. Health Posts (Gesundheitsstationen) und mobile Kliniken garantieren die Basisversorgung in ländlichen Regionen.

Die Kliniken, die wir betreiben, unterscheiden sich von den öffentlichen Krankenhäusern. Bei uns arbeiten Allgemeinmediziner:innen, Internist:innen, Kinderärzt:innen und Gynäkolog:innen – unter anderem für die Begleitung natürlicher Geburten. Psycholog:innen stehen für die emotionale Begleitung der Patient:innen bereit und Community Health Workers (Kommunale Gesundheitsbedienstete) arbeiten direkt mit den Familien und den Nachbarschaften. Medikamente gibt es in den angeschlossenen Apotheken.

Melden die Kommunen Unterstützungsbedarf für die kommunalen Krankenhäuser, dann leisten wir diese Unterstützung im Rahmen unserer Möglichkeiten. Zum Beispiel unterstützen wir die Geburtsstationen der öffentlichen Kliniken, und ein leider immer noch aktuelles Beispiel ist die notwendige Versorgung von an Corona erkrankten Menschen. Im Heyva-Sor-Krankenhaus in Hesekê wurde eine Intensivstation eingerichtet, um eine umfassende medizinische Versorgung zu bieten. Und hier ein Beispiel, wie die Sicherheitsprobleme unsere Arbeit beeinflussen: Diese Intensivstation musste in das kommunale Krankenhaus verlegt werden, denn wir konnten die Sicherheit nicht gewährleisten, wenn Kranke aus den IS-Camps, etwa aus al-Hol, zu uns gebracht wurden. Die logistischen und sicherheitstechnischen Probleme waren zu groß. Aber unser Personal arbeitet weiterhin für diese Station im kommunalen Krankenhaus.

Der Heyva-Sor-Mitarbeiter Basim Mihemed wurde kürzlich von mutmaßlichen IS-Schläfern in Hol ermordet

Eigentlich bräuchte es eine adäquate Versorgung für Covid-Patient:innen in den Internierungscamps, was vor allem sicherheitstechnisch und logistisch einiges vereinfachen würde. Bisher gibt es dort aber lediglich Quarantänestationen und noch keine Covid-Krankenhäuser. Eine Konsequenz aus der schwierigen logistischen Lage im Camp al-Hol war der Aufbau eines Field Hospitals (Lazarett) gemeinsam mit unseren Partnern Medico International und Cadus. Dieses Field Hospital entlastet das öffentliche Gesundheitswesen spürbar, verfügt aber leider nicht über ausreichend Kapazität, um alle Fälle im Camp zu behandeln, und speziell für an Corona Erkrankte fehlen uns ausreichend Quarantänestationen. Die NGO Cadus betreibt diese Klinik jetzt weiter.

In den Flüchtlingscamps bauen wir vergleichbare medizinische Strukturen auf wie in den Kommunen. Es fehlt uns allerdings an internationaler Unterstützung, vor allem bei der Versorgung an Corona erkrankter Patient:innen.

Ich habe versucht, unsere Arbeit kurz zusammenzufassen. Und in diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, einen Aspekt aus den Bedingungen, unter denen wir arbeiten, herauszugreifen: Wir arbeiten unter ständigen Kriegsdrohungen der Türkei, und durch die täglichen Angriffe an der Grenze zu den von der Türkei besetzten Gebieten werden viele Menschen aus den Dörfern verletzt. Unsere Mitarbeiter:innen sind wie die gesamte Bevölkerung hier diesem ständigen Bedrohungsstress ausgesetzt.

Gibt es Projekte für spezielle Zielgruppen, und sind neue Projekte in Planung?

Wir arbeiten gemeinsam mit Medico International im Waisenhaus in Hesekê. Hier leben Kinder aus Vergewaltigungen ezidischer Frauen durch IS-Männer. Die Mütter konnten nach ihrer Befreiung bei der Rückkehr in ihre Familien ihre Kinder nicht mitnehmen.

Vor kurzer Zeit wurden wir damit beauftragt, die medizinische Versorgung in sogenannten Detention Centers zu übernehmen. Unter Detention Center kann man sich eine Zwischenebene zwischen Gefängnis und Internierungslager vorstellen. Hier sind die ehemaligen Kindersoldaten des IS untergebracht, heute Jugendliche ohne Perspektive, in ihre Heimatländer zurückkehren zu können. Diese Arbeit ist eine mentale Herausforderung für unsere Kolleg:innen. Die Opfer waren auch Täter, und wir müssen die richtige Balance in unserer Haltung finden, denn medizinische Betreuung betrifft den ganzen Menschen, auch die Psyche.

Eine Folge des Krieges gegen den IS und der Angriffe der Türkei sind die vielen Kriegsverletzten, meist noch junge Frauen und Männer. In Qamişlo steht ein großes Zentrum für diese Zielgruppe kurz vor der Fertigstellung. Die Prothesenwerkstatt bekommt dort endlich die dringend benötigten größeren Räume, es wird eine physiotherapeutische Abteilung geben, und Psycholog:innen werden im Haus arbeiten. Außerdem stehen ausreichend Verwaltungsräume und Übernachtungsmöglichkeiten für Patient:innen, deren Prothesenanpassung längere Zeit braucht, bereit. Kleinere Zentren dieser Art sollen in allen Regionen aufgebaut werden, aber die zentrale Versorgung wird in Qamişlo sein.

Die Heyva-Sor-a-Kurd-Klinik in Minbic

Hier in Qamişlo, angebunden an das Emergency Center, betreibt Heyva Sor auch ein Mammographiezentrum für Frauen. Aber auch hier wieder ein Blick auf die Lebenswirklichkeit unserer Bevölkerung: Es gibt im Moment kaum Medikamente zur Behandlung von Krebs in der Region der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Wir stehen unter dem Embargo durch die Türkei und durch das Regime in Damaskus. Die ganze Region leidet unter einem Mangel an Medikamenten, vor allem fehlen solche, die für schwere und chronische Erkrankungen gebraucht werden.

Es gibt bis jetzt keine statistische Erfassung, aber die Erfahrung zeigt, dass Krebserkrankungen bei Frauen und Kindern deutlich zunehmen. Auch die Ursachen dafür sind nicht systematisch erfasst, aber sicher trägt die Umweltverschmutzung, auch in Folge des Krieges und der schwierigen wirtschaftlichen Lage, dazu bei.

Krebserkrankungen müssen auch hier in der Region behandelbar werden, denn nicht alle erkrankten Menschen können für eine Behandlung nach Damaskus reisen. Drohende politische Verfolgung kann dafür ein Grund sein, oder die hohen Kosten für die Reise und die Behandlung können nicht aufgebracht werden. Deshalb soll trotz aller Probleme ein Zentrum zur Krebsbehandlung hier in der Region aufgebaut werden.

Weitere laufende oder in Planung befindliche Projekte sind Aufklärungskampagnen für gesunde Ernährung, gegen den Missbrauch von Antibiotika – sofern erhältlich, gelten sie als Allheilmittel in der Bevölkerung – und über Diabetes. Diabetes ist hier eine weitverbreitete Erkrankung, und es fehlt an Insulin.

Es ist uns übrigens gelungen, in den Krankenhäusern der Region Müllverbrennungsöfen für den medizinischen Müll aufzubauen, und der Ausbau unserer Abteilung für Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene macht gute Fortschritte. Dies ist ein wichtiger Schritt für die Vermeidung von Krankheiten.

Ein von Heyva Sor a Kurd errichteter Spielplatz in einem Vertriebenenlager

Wie viele Mitarbeiter:innen arbeiten für Heyva Sor a Kurd? Gilt es besondere Herausforderungen im Personalmanagement zu bewältigen?

Etwa 2.000 Menschen arbeiten bezahlt und auch ehrenamtlich bei uns, die Mehrheit bekommt Gehalt. Ich sage etwa, denn die Zahl der bezahlten Mitarbeiter:innen ist abhängig von Projektgeldern. Und alle, die mit Projektarbeit vertraut sind, kennen dieses Problem fehlender Kontinuität. Viele unserer Kolleg:innen sind sehr idealistisch eingestellt und improvisieren ihren Lebensunterhalt auch in Zeiten nicht fließender Projektmittel. Immer wieder können monatelang Gehälter nicht gezahlt werden, denn die notwendige Arbeit geht weiter, aber die Projektgelder fließen sehr unregelmäßig. Manchmal müssen wir die Gehälter wegen mangelnder Projektfinanzierung kürzen, oder die Kolleg:innen arbeiten für eine begrenzte Zeit ehrenamtlich. Ein großes Problem in dieser wirtschaftlich angespannten Lage hier und ein großes Problem für unsere Personalplanung.

Wir bemühen uns aber immer, wenigstens ein Mindestgehalt zu bezahlen. Hier gibt es kein Sozialversicherungssystem wie zum Beispiel in Deutschland. Wir bauen gerade innerhalb von Heyva Sor ein solches auf, um im Einsatz verletzte Mitarbeiter:innen weiterhin auf Mindestniveau zu bezahlen oder um Familien zu unterstützen, deren Vater oder Mutter bei einem Einsatz ums Leben kamen. Selbstverständlich unterstützen wir auch mit medizinisch notwendigen Operationen. Im Fall, dass wir Kliniken schließen müssen, wie 2019 als die Türkei Serêkaniyê besetzt hat und wir unsere Teams evakuieren mussten, ist unsere Unterstützung für die Mitarbeiter:innen notwendig. Wir hoffen, dass unsere internationalen Partner und ihre Geldgeber dieses interne Sozialsystem unterstützen. Wir haben dieses Modell auch bei der Selbstverwaltung vorgestellt, und vielleicht kann es auch ein gutes Beispiel für die hier arbeitenden NGOs sein.

Diese Herausforderung im Personalmanagement haben wir also hoffentlich erfolgreich gelöst, aber es ist nicht die einzige. Unser Personal wird aus- und fortgebildet von Fachkräften und ist deshalb attraktiv für andere medizinische Dienstleistenden. Wir kämpfen mit dem Problem der Abwerbung durch internationale NGOs. Der Unterschied zwischen unseren Gehältern, den Gehältern der Selbstverwaltung und den Gehältern der NGOs ist immens und ist eines unserer größten Probleme. Dringend benötigtes Fachpersonal im öffentlichen Bereich wird durch die NGOs abgezogen. Leider kam es bis jetzt zu keiner Einigung.

Alle unsere Mitarbeiter:innen haben den Code of Conduct (Verhaltenskodex) der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Organisationen unterschrieben und besuchen regelmäßig Fortbildungskurse. Mit dieser Unterschrift verpflichten sich die Kolleg:innen unter anderem niemanden aufgrund der Herkunft, der Religion und des Geschlechts zu diskriminieren und keine Gegenleistungen, welcher Art auch immer, einzufordern. Sollte es zu Beschwerden kommen, geht unser Protection Team diesen nach und fordert bei Bedarf Konsequenzen bis hin zur Entlassung.

Die Arbeit hier vor Ort ist keine leichte. Embargo und ständige Angriffe der Türkei, neue Kriegsdrohungen durch die Türkei, Spannungen mit dem Assad-Regime, der wiedererstarkende IS – um nur einige Beispiele zu nennen – erschweren die Arbeit.

Das Mammographiezentrum für Frauen

Gibt es Faktoren, die zusätzlich Probleme schaffen?

Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien wird nicht international anerkannt, und für Syrien gilt der Syrisch-Arabische Rote Halbmond, der dem Regime in Damaskus nahesteht, als offizielle Rothalbmondorganisation. Solange diese uns nicht anerkennt und mit uns kooperiert, werden wir immer einen inoffiziellen Status haben, egal wie wichtig unsere Arbeit ist. Wir sind kompromissbereit und suchen die Zusammenarbeit. Zum Beispiel könnte der Zusatz Kurd im Namen wegfallen. Das entspricht übrigens auch unserer Arbeitsrealität. Wir arbeiten in einer multiethnischen Gesellschaft mit einem multiethnischen Kollegium.

Die fehlende Anerkennung als Mitglied der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung bedeutet, dass auch staatliche internationale Geldgeber uns nicht anerkennen, obwohl wir nach den Prinzipien der Internationalen Föderation dieser Gesellschaften arbeiten. Ein praktisches Beispiel: Eine NGO bekommt Geld von der deutschen Regierung für ein medizinisches Projekt, darf aber mit uns kein Partnerabkommen abschließen, will es aber gemeinsam mit uns umsetzen. Aber ohne Partnerabkommen darf die NGO unsere schon vorhandene Infrastruktur nicht nutzen, muss eine neue aufbauen und damit verteuern sich die Projekte erheblich.

Ein weiteres großes Problem: Es gibt kein Bankensystem in unserer Region. Es werden aber Banken für Geldüberweisungen benötigt, ein Konto für Spendenkampagnen. Eine Kontoeröffnung in Südkurdistan (Nordirak) ist auch nicht möglich, denn dafür wird die offizielle Registrierung in Bagdad gebraucht, die wir nicht bekommen. Dieses Problem des Geldtransfers von Fall zu Fall zu lösen, ist sehr aufwendig, denn alternative Wege werden oft kriminalisiert unter dem Vorwurf der Geldwäsche.

Oft werden die Belastungen durch die Internierungscamps international thematisiert. Zehntausende IS-Anhänger und ihre Familien müssen dort auch medizinisch versorgt werden, und die Camps müssen zum Schutz der Bevölkerung, auch der Bevölkerung in Europa, gesichert werden. Diese Camps binden materielle Ressourcen, die eigentlich auch für den Aufbau eines Gesundheitssystems oder anderer infrastruktureller Wiederaufbaumaßnahmen gebraucht würden, in hohem Maße. Aber auch die vielen Binnenflüchtlinge, geflohen aus den von der Türkei besetzten oder vom Regime in Damaskus kontrollierten Gebieten, die in den Flüchtlingslagern auf die Rückkehr in ihre Heimatorte warten, brauchen medizinische Versorgung. Auf wirklich ausreichende Unterstützung aus dem Ausland zu hoffen ist keine Option, denn der andauernde Krieg hier und die damit einhergehenden wirtschaftlichen, sozialen und Sicherheits-Probleme werden international von einer Mauer des Schweigens umgeben. Erschwerend kommt dazu, dass die internationalen Hilfsgelder für Syrien insgesamt im Moment in großem Umfang gekürzt werden.

Probleme brauchen Lösungen. Welche Wege müssen dafür eingeschlagen werden?

Intern sind wir bei Heyva Sor a Kurd bemüht, durch eine neue und effektivere Verwaltungsstruktur der immer weiter wachsenden Organisation gerecht zu werden. Anfang 2021 war für alle klar, dass die bestehende Aufgabenverteilung und Koordination der Arbeiten zu einer übermäßigen Belastung vieler Kolleg:innen führte und ineffektive Kommunikations- und Entscheidungswege die Arbeit erschwerten. Gemeinsam mit dem Kollegium haben wir nach Lösungen gesucht, die Umstrukturierung geplant und umgesetzt. Dieser Prozess hat sich auch sehr positiv auf die Arbeitsplatzzufriedenheit ausgewirkt. Diese Veränderung lag in unserer Hand und wir haben sie umgesetzt.

Die internationale Anerkennung als Rotkreuz- bzw. Rothalbmondorganisation liegt nicht allein in unserer Hand, aber wir hoffen, dass die Bedeutung unserer Arbeit auch international von Regierungsseite gesehen wird. Wir müssen in Nord- und Ostsyrien ein umfassendes, möglichst kostenloses öffentliches Gesundheitssystem aufbauen und brauchen dazu die finanziellen Mittel, die von der Selbstverwaltung derzeit nicht aufgebracht werden können, da leider ein Großteil der öffentlichen Gelder für die notwendige Verteidigung aufgebracht werden muss. Unsere Region befindet sich derzeit in einer nahezu einzigartigen Situation: Hier findet ein Aufbau ziviler Verwaltungsstrukturen statt. Der Aufbau muss trotz fortwährender Angriffe, permanenter Kriegsbedrohungen und fehlender internationaler Anerkennung der Selbstverwaltung bewältigt werden. Diese fehlende Anerkennung ist für mich unverständlich, denn die Revolution hier hat das Ziel, Gleichberechtigung und Demokratie in dieser Gesellschaft aufzubauen. Dass dies kein einfacher Prozess ist, liegt auf der Hand, aber diesen Prozess auch noch aktiv zu blockieren von Seiten der westlichen demokratischen Staaten und ihn sogar aktiv zu bekämpfen durch Waffenhandel mit der Türkei, gipfelt in Zynismus und zeugt von unfassbarer Kaltblütigkeit.

In diesem Punkt heißt der Lösungsweg Frieden mit einer langfristigen Perspektive für die Region. Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit in Teilen der Bevölkerung sind nachvollziehbar, und damit einher geht der Wunsch, nach Europa zu kommen. Alle Anstrengungen der Selbstverwaltung stoßen ob der geschilderten Probleme immer wieder an ihre Grenzen.

Eine persönliche Frage zum Abschluss unseres Gesprächs: Was motiviert Sie auch unter oft schwierigen Bedingungen, bei Heyva Sor a Kurd zu arbeiten?

Nach meiner Arbeit bei einer auch hier in der Region engagierten NGO habe ich beschlossen, zu Heyva Sor a Kurd zu wechseln. Ich will mit den Menschen vor Ort arbeiten, und das im Rahmen eines lokal verorteten organisatorischen Kontextes. Hiersein schafft Verständnis, und ich will meinen Beitrag zum Aufbau eines Gesundheitssystems in der Region leisten. Die Arbeit von NGOs als Hilfsorganisationen wird zu Recht kritisch betrachtet, auch hier.

Und eine sehr persönliche Motivation: Inzwischen bin ich mit meinen Freund:innen und Kolleg:innen zu einer Familie zusammengewachsen. Das schafft auch eine starke emotionale Bindung, die mir sehr viel Energie gibt und die ich auch nicht so einfach aufgeben kann und will.

Eine letzte Anmerkung: Politische Aussagen sind meine persönlichen Aussagen und spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung von Heyva Sor a Kurd wider.

Unterstützung für die Arbeit von Heyva Sor a Kurd ist möglich über Spenden an Medico International, Heyva Sor a Kurdistanê e.V. und Cadus mit dem Vermerk »Emergency Response NES«. Das Geld fließt dann in laufende Projekte dieser NGOs in Kooperation mit Heyva Sor a Kurd.

 

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