Diyarbakir (Türkei): Die Lebensweise in Sûr sollte zerstört werden“
Der Altstadtbezirk Sûr in Amed ist in einen Ort umgewandelt worden, an dem die alten nachbarschaftlichen Beziehungen und kulturellen Interaktionen nicht mehr existieren.
Die Ko-Vorsitzende der Architektenkammer von Amed, Selma Aslan, erklärt zu den von der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI im Altstadtbezirk Sûr gebauten Gebäuden: „Die Bauten wurden aus Sicherheitsgründen errichtet, ohne die historische Straßenstruktur zu berücksichtigen. In der Region wurden breite Straßen angelegt, die sechs Polizeistationen und öffentliche Gebäude miteinander verbinden. Da sich die Pläne auf die Sicherheit konzentrierten, wurden die Grundsätze des Städtebaus ignoriert."
Aslan weist darauf hin, dass nach der Vertreibung der Bevölkerung aus Sûr in anderen Teilen der Stadt sogenannte Gecekondu entstanden sind, über Nacht errichtete Behausungen in Slums. Die Architektin geht davon aus, dass die bei der Zerstörung des Altstadtbezirks entstandenen Traumata und die architektonische Umstrukturierung der Stadt und ihren Bewohnern in Zukunft ernste Probleme bereiten werden.
Der türkische Staat zerstörte während des von 2015 bis 2016 ausgerufenen Widerstands für Selbstbestimmung fast das komplette Altstadtviertel mit seinen historischen Gebäuden in der kurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakir). Ab März 2016 begannen die Abrissarbeiten in sechs Wohnvierteln, in denen Ausgangssperren verhängt wurden. TOKI übernahm den Wiederaufbau. Der Bau von Gebäuden, die der historischen und kulturellen Struktur nicht angemessen sind, rief Proteste von Architekten, Ingenieuren und Stadtplanern hervor.
Selma Aslan erklärt gegenüber ANF, dass die alte Struktur in Sûr trotz massiver Zerstörung hätte gerettet werden können. Das sei jedoch nicht geschehen, so die Architektin: „Die Straßenstruktur war ein wichtiger Grund für die Aufnahme von Sûr in die Liste des historischen und kulturellen Erbes. Die Beseitigung dieser Struktur ist ein großes Problem. Wenn man die architektonische Planung eines Ortes vornimmt, bestimmt man damit auch die künftige Lebensweise. In Sûr wurde gezielt die demografische Struktur verändert. Alles, von der soziokulturellen Struktur bis zur Wirtschaftsstruktur, hat sich verändert. Das Gebiet ist kommerzialisiert worden und wird für touristische Zwecke genutzt werden.“
„Das war ohnehin das Ziel“
Sûr wird in einen Ort umgewandelt, an dem die alten nachbarschaftlichen Beziehungen und kulturellen Interaktionen nicht mehr existieren, sagt Aslan: „Das war ohnehin das Ziel. Die Lebensweise in Sûr ist davon betroffen. Es ist ganz klar, dass sich die Struktur völlig verändert hat. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Baustruktur dort innerhalb der nächsten zehn Jahren weiter deformiert werden wird."
Ein weiteres wichtiges Problem sei die Frage, wo und wie die Menschen leben, die aus Sûr vertrieben wurden, so Aslan: „Wir werden sehen, wie sich die Traumata, die diese Menschen erlebt haben, auf die Stadt und ihre Bewohner auswirken werden. Wir werden mit Sicherheit sehen, dass dies in der Zukunft zu ernsthaften Problemen führen wird. Denn es gab kein Projekt im Zusammenhang mit dem alten Sûr. Vor allem wird die verzerrte Planung, die dem historischen Wesen des Bezirks zuwiderläuft, zu ernsthaften architektonischen Problemen führen. Obwohl der Staat die Verpflichtung hat, historische und kulturelle Stätten zu schützen, ist das genaue Gegenteil eingetreten. Die Türkei hat viele internationale Konventionen zu diesem Thema unterzeichnet. Aber diese Konventionen stehen nur auf dem Papier. Die Türkei hält sich nicht an sie. Als Architektenkammer haben wir immer wieder Sensibilität eingefordert. Wir haben gefordert, dass sich Fachleute dem Gebiet annehmen. Wir haben auch die UNESCO gebeten, hierher zu kommen und zu untersuchen, was hier vor sich geht, aber nichts davon ist geschehen."
Die neuen Gebäude im Altstadtbezirk Sûr ähneln einem Gefängnis
Aslan weist darauf hin, dass die neuen Bauten in Sûr einem Gefängnis ähneln: „Die in den zerstörten Wohnvierteln errichteten Gebäude erinnern an Gefängnisse. Ein weiteres großes Problem besteht darin, dass die Gebäude dort nicht aus hochwertigen Rohstoffen gebaut wurden. Da es sich um schlampige Arbeit handelt, werden wir in Zukunft vor vielen Problemen stehen. Anstatt die zerstörten Gebäude zu restaurieren, wurden sie mit Vorschlaghämmern abgerissen. Das gilt vor allem für die traditionellen Bauten aus schwarzem Basaltgestein.“
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