medico international:

Interview mit Sherwan Bery vom Kurdischen Roten Halbmond in Nordostsyrien

Veröffentlicht am 08. Juli 2021. Das Interview führten Raul Rosenfelder und Anita Starosta.

Sherwan Bery vom Kurdischen Roten Halbmond in Nordostsyrien über die Corona-Situation in der Region, Schwierigkeiten beim Impfen und russische Drohungen im UN-Sicherheitsrat.

Am morgigen 10. Juli läuft das UN-Mandat für humanitäre Hilfe nach Syrien aus. Über den Grenzübergang Bab al-Hawa werden bislang UN-Hilfsgüter aus der Türkei nach Idlib im Nordwesten Syriens transportiert. In den dortigen Flüchtlingslagern leben bis zu 3 Millionen Menschen, die auf diese Hilfe dringend angewiesen sind, regelmäßig steht die Region am Rande einer Hungersnot. Nun droht Russland erneut mit einem Veto im Sicherheitsrat gegen die Erneuerung des Mandats. Putin will Bab al-Hawa schließen und die humanitäre Hilfe über Damaskus, also den syrischen Staat, laufen lassen.

Humanitäre Hilfe war in Syrien schon immer ein Machtinstrument der Stellvertretermächte. Sollte sich das russische Veto durchsetzen, gibt es keinen offiziellen UN-Grenzübergang mehr nach Syrien und damit keinen direkten Hilfskorridor. In Rojava – den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung – fehlt die UN-Hilfe bereits seit fast zwei Jahren. Auch dort hat das russische Veto im Sicherheitsrat dafür gesorgt, dass Hilfsgüter der Vereinten Nationen nicht mehr ankommen. Über die Folgen dieser Machtpolitik sprachen wir mit dem Co-Vorsitzenden des Kurdischen Roten Halbmondes, Sherwan Bery, bei einem Besuch in Frankfurt.

medico: Sherwan, schön dass du es trotz der aktuellen Pandemielage bis nach Frankfurt geschafft hast. In Deutschland wird geimpft, das öffentliche Leben kehrt zurück, die Menschen machen Reisepläne. Dabei wird oft aus dem Blick verloren, wie es in anderen Regionen der Welt aussieht. Wie ist denn die Situation in Nordostsyrien?

Sherwan Bery: Wenn wir über die aktuelle Situation sprechen, müssen wir vor allem über Covid-19 sprechen. Wir vom Kurdischen Roten Halbmond sind seit dem letzten Jahr sehr von den Pandemiemaßnahmen eingenommen. Gemeinsam mit lokalen selbstverwalteten Initiativen, aber auch internationalen NGOs, haben wir Komitees eingerichtet, um Pandemiemaßnahmen zu koordinieren. Das funktioniert nun seit über einem Jahr.

Aktuell gibt es in der Region nur wenige Corona-Fälle. Die dritte Welle, die die Schlimmste war, haben wir überstanden. Die Krankenhäuser sind nicht mehr voll; in einem unserer Hauptkrankenhäuser hatten wir gestern zum Beispiel nur vier Corona-Patient:innen, die alle keine schweren Verläufe haben. Seit Beginn der Pandemie gibt es allerdings ein Problem mit unserer Intensivpflege. Unsere Ärzt:innen haben nicht genügend Kapazitäten. In gut ausgestatteten Krankenhäusern mit genügend Personal gibt es eine 50/50-Chance, dass Corona-Patient:innen mit einem schweren Verlauf überleben. In unseren Krankenhäusern verlieren wir in diesen Fällen 90 Prozent der Patient:innen, vor allem wenn wir sie intensiv beatmen müssten.

Trotz allem hatten wir aber auch viel Glück: Das Virus kam erst sehr spät bei uns an, und die Bevölkerung besteht größtenteils aus sehr jungen Menschen.

Wie habt ihr die ersten Monate der Pandemie erlebt? Hat euch die erste Welle so schlimm und überraschend getroffen wie zahlreiche andere Länder mit schlecht ausgestattetem Gesundheitssystem?

Nein, zum Glück hatten wir zu Beginn keine großen Infektionswellen, wie andere Länder. Grund dafür war jedoch nicht unsere medizinische Versorgung oder der weitsichtige Umgang mit der Pandemie, sondern die zeitliche Verzögerung, mit der das Virus bei uns ankam. Dadurch konnten wir aus den Erfahrungen bereits betroffener Länder lernen. Ein weiterer wichtiger Vorteil war, dass es nicht so viele alte Menschen in Nordostsyrien gibt. Viele Fälle wurden aber natürlich auch nicht registriert, da wir so gut wie keine Testmöglichkeiten hatten.

Als Ende März 2020 die ersten positiven Fälle auftraten, lief es daher sehr chaotisch ab. Es gab zum Beispiel einen Fall in Hasekeh, der aber vom Gesundheitsministerium in Damaskus den lokalen Behörden in Nordostsyrien nicht gemeldet wurde. Zu diesem Zeitpunkt standen uns noch keine PCR-Tests zur Verfügung, sondern wir waren auf das syrische Gesundheitsministerium und die WHO angewiesen, die getestet haben. Uns wurden diese – teils positiven – Testergebnisse oft viel zu spät übermittelt. Unverantwortlich, wenn es darum geht, Kontaktketten zu unterbrechen.

Welche Herausforderungen brachten die zweite und dritte Welle mit sich?

Auch die zweite Welle kam bei uns, im Vergleich zu den meisten anderen Ländern, mit Verzögerung an und traf uns ebenfalls nicht so hart. Daher hatten wir erneut die Möglichkeit, uns vorzubereiten, obwohl wir nur sehr wenige Gesundheitsmitarbeiter:innen und wenige Kapazitäten hatten. Wir konzentrierten uns also vor allem auf die Städte und nicht so sehr auf die Lager der Geflüchteten, da dort bereits viele Gesundheitsorganisationen tätig sind. Eines unserer Hauptziele war es, Gebäude als Covid-19-Krankenhäuser umzufunktionieren. Und zwar aus zwei Gründen: erstens haben wir wenige Gesundheitsfachkräfte und müssen sie an zentralen Orten konzentrieren. Zweitens ist die Infektionskontrolle an einem zentralen Ort sehr viel einfacher als in vielen kleinen Krankenhäusern.

Die dritte, noch anhaltende Welle traf uns am härtesten. Es wurde ein großer Fehler gemacht. In Nordostsyrien gibt es im März zahlreiche Feiertage und Feste, z.B. das kurdische Neujahrsfest Newroz. Letztes Jahr wurden die meisten Feierlichkeiten gestoppt, was unter der Bevölkerung zu Unmut führte. Statt die Feiern erneut zu verbieten, stellte die Selbstverwaltung dieses Jahr für die Feierlichkeiten Regeln auf. An diese hielten sich viele jedoch nicht. Es gab also christliche und assyrische Feste, Frauen-Feiern und sehr große Demonstrationen. Daraufhin stiegen die Infektionszahlen im April massiv an. Wir stießen an die Kapazitätsgrenzen in den Krankenhäusern und der Sauerstoffvorräte.

Welche Tätigkeiten verfolgt ihr außer dem Aufbau von größeren Krankenhäusern und der Einrichtung der koordinierenden Komitees?

Wir kümmerten uns auch um die Beschaffung individueller Schutzausrüstung und stellten Notfallteams auf. Diese sind schnell im Einsatz, um zu testen oder die Verdachtsfälle zu Teststellen bzw. ins Krankenhaus zu bringen. Am Anfang hatten wir außerdem Teams zur Kontaktverfolgung, die sich aber als unnütz herausstellten aufgrund der schnellen Verbreitung. Mit über 50 Fällen in einer Stadt ist es nutzlos, die Kontakte zurückzuverfolgen und es verbraucht Kapazitäten, die wir nicht haben. Dasselbe gilt für die Geflüchteten-Camps. Dort haben wir uns sehr auf die Aufklärungskampagnen konzentriert.

Eine der größten Herausforderungen ist die Vermittlung der Risiken und die Stärkung des Engagements in den Komitees, die ein wichtiger Teil unserer Strategie sind. Viele Menschen glauben, Covid-19 wäre eine Lüge, und respektieren die notwendigen Maßnahmen nicht. Die meisten hören nicht auf Ärzt:innen, also mussten wir über andere Wege nachdenken und wandten uns zum Beispiel an Stammesoberhäupter oder die Imame der Moscheen. Aber in den Camps reichten unsere Kapazitäten häufig nicht aus. Beispielweise im Al-Hol-Camp oder in den Camps bei Hasakeh gibt es große Probleme bei der Wasserversorgung. Die Menschen dort können sich also häufig nicht mal die Hände waschen.

Stehen euch Impfstoffe zur Verfügung?

Es gab viele Diskussionen mit der WHO in Syrien darüber, wie wir Impfstoff bekommen. Von Anfang an führt das syrische Gesundheitsministerium die Impfungen durch. Die Selbstverwaltungsbehörden sind nicht involviert. Das einzige was wir als Halbmond, zusammen mit Ärzte ohne Grenzen, momentan tun können: Wir impfen in einigen Regionen im Kanton Kobanê, da das syrische Gesundheitsministerium hier keinen Zugang hat.

Wir haben jedoch kaum Expertise und auch zu wenige Kapazitäten. Das ist auch ein Argument gegen Impfstofflieferungen an die selbstverwalteten Gebiete, wie die WHO immer wieder betonte. Es hieß zu Beginn, dass 1,02 Millionen Impfdosen für ganz Syrien, also die syrische Regierung, für die selbstverwalteten Regionen und für die oppositionell regierten Gebiete, geliefert würden. Wir benötigen jedoch eigenen Impfstoff. Denn viele Menschen, die in Nordostsyrien leben, haben keinen Zugang zum syrischen Gesundheitssystem. Im Gegenteil – viele sind nicht bei den syrischen Behörden registriert und haben ihre Abschlüsse auf den Akademien der selbstverwalteten Gebiete gemacht. Und auch unsere Mitarbeiter:innen, Krankenwagenfahrer:innen, Putzbedienstete in den Krankenhäusern oder Rettungssanitäter:innen sind nicht bei den syrischen Behörden registriert. Obwohl sie zu den priorisierten Gruppen gehören, können sie sich in Syrien also nicht impfen lassen.

Dann gibt es auch ein Sicherheitsproblem: Viele von uns, die zum Beispiel von der syrischen Regierung gesucht werden und sich offiziell außerhalb von Syrien aufhalten, können sich nicht bei syrischen Behörden zum Impfen registrieren lassen. Sonst laufen sie Gefahr, verhaftet zu werden. Diese Dinge machten uns also große Sorgen. Daher haben wir von Beginn an dafür gestritten, eigenen Impfstoff zu bekommen. Das hat einige Mühen gekostet, aber inzwischen sind bei der Selbstverwaltung 7000 Angestellte aus dem Gesundheitssektor, 2000 Mitarbeitende des Halbmondes und 1700 Personen des Gesundheitspersonals im al-Hol-Camp zur Impfung registriert. Für sie bekommen wir Impfdosen von der WHO.

Das klingt erstmal gut.

Ja, als wir den Impfstoff bekamen, konnten wir die Hälfte unseres Gesundheitspersonals impfen. Wir stehen aber immer noch ganz am Anfang. Die größte Herausforderung ist die Kommunikation der Risiken. Der Impfstoff, der uns zur Verfügung steht, ist AstraZeneca, dessen Ruf nicht so gut ist wie der der anderen Impfstoffe. Das führt zu Missverständnissen und Vorbehalten; viele wollen sich nicht impfen lassen. Wir ermutigen unsere Angestellten und alle älteren Menschen, sich impfen zu lassen.

Habt ihr einen Plan, wie ihr in den nächsten Monaten und Jahren an mehr Impfstoff kommt?

Es gibt Länder, die Impfstoff spenden wollten. Dänemark schickte zum Beispiel eine Delegation ihres Außenministeriums, da sie der Selbstverwaltung AstraZeneca spenden wollten. Das war dann aber doch sehr schwierig, denn es gab einen Vertrag mit AstraZeneca, den Impfstoff nur an öffentliche Institutionen zu spenden. Das stellte für uns ein großes Hindernis dar: Aus rechtlichen Gründen konnte der Impfstoff schließlich weder den Selbstverwaltungsbehörden noch dem Halbmond gespendet werden. Obwohl es zahlreiche Gespräche gab und der Wille und die Ressourcen tatsächlich da sind. Es bleibt der einzige Weg, an Impfstoff zu kommen, über die WHO und das Covax-Programm. In diesem Fall wird der Impfstoff aber nicht für Nordostsyrien, sondern für ganz Syrien ausgegeben und die WHO entscheidet dann, wie und wo der Impfstoff im Land verteilt wird.

Wenn du priorisieren müsstest, würdest du sagen, dass Corona und die Frage der Impfungen im Moment die größte Herausforderung darstellt für den Roten Halbmond? Welche Rolle spielen daneben die Situation im al-Hol-Camp, die Bedrohung durch die türkische Regierung oder der Konflikt mit dem Nordirak?

Für den Halbmond ist im Moment definitiv das Problem der Impfungen am drängendsten. Politisch hat sich die Region zumindest momentan stabilisiert, vor allem durch die Wahlen in den USA. Letztens erst gab es ein wichtiges Treffen zwischen der russischen und der US-amerikanischen Regierung, und um ehrlich zu sein: Das sind diejenigen, die entscheiden, wie es weitergeht. Da es für Nordostsyrien seit fast zwei Jahre keine grenzüberschreitende UN-Hilfe mehr gibt, sind wir auch in der Impfstoff-Frage auf das WHO-Büro in Damaskus und das syrische Gesundheitsministerium angewiesen. Wie problematisch das ist, habe ich ja bereits beschrieben.

Wir haben uns immer wieder für die Öffnung des Al-Yaroubiah-Grenzübergangs zum Nordirak eingesetzt, da uns auch in anderen Bereichen Unterstützung fehlt. Die Hilfslieferungen haben sich um 70 Prozent reduziert. Das ist vor allem für die Situation in den Flüchtlingslagern dramatisch. In Nordostsyrien ist der Mangel an humanitärer Hilfe und Impfstoff enorm – von einer gerechten Gesundheitsversorgung für alle sind wir noch weit entfernt. Aber wir haben schon viele Krisen überstanden und werden auch dieses Mal nicht aufgeben. Wichtig ist dabei die globale Solidarität; nur gemeinsam kann es gelingen, eine gerechte Impfstoffverteilung durchzusetzen und Gesundheitssysteme nachhaltig zu stärken.

Das Interview führten Raul Rosenfelder und Anita Starosta.

Die Arbeit der medico-Partner:innen vom Kurdischen Roten Halbmond in Nordostsyrien kann mit einer Spende unterstützt werden.

Spendenstichwort: Rojava

Sherwan Bery

Sherwan Bery ist eines der Gründungsmitglieder des Kurdischen Roten Halbmondes. Seit vier Jahren ist er Co-Vorsitzender der 2012 gegründeten Nothilfe-Organisation. Mit über 2000 Mitarbeitenden gehört der Halbmond mittlerweile zu den Hauptakteur:innen der humanitären Hilfe in Nordostsyrien.

 

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