UN und EU schweigen zu Schicksal ezidischer Bevölkerung Efrîns
Der Ko-Vorsitzende der Ezidischen Vereinigung von Efrîn, Mustafa Nebo, äußert sich im ANF-Interview zum Ethnozid an den Eziden in Nordwestsyrien und beklagt das internationale Schweigen zur Lage in den von der Türkei besetzten Gebieten in Nordsyrien.
Seit der Invasion in Efrîn und der Besetzung des ehemals selbstverwalteten Kantons im Nordwesten von Syrien ist die für das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und ethnischer Identitäten berühmte Region zu einem Ort der Unterdrückung und Verfolgung geworden. Rund eine halbe Millionen Menschen, darunter hunderttausende Binnenflüchtlinge, wurden von der türkischen Armee und den mit ihr verbündeten Dschihadistenmilizen vertrieben. Die meisten von ihnen leben bis heute in Zeltstädten im benachbarten Kanton Şehba.
Besonders von der Verfolgung betroffen sind Ezid:innen. Viele Ezid:innen wurden entführt, die verbliebenen zur Konvertierung zum sunnitischen Islam gezwungen, ihre heiligen Stätten zerstört und ihre Friedhöfe verwüstet. Im ANF-Gespräch berichtet der Ko-Vorsitzende der Ezidischen Vereinigung von Efrîn, Mustafa Nebo, über die Situation der Ezidinnen und Eziden in Nordwestsyrien und beklagt das internationale Schweigen zur Lage in den durch die Türkei besetzten Gebieten. Nebos Kritik richtet sich auch gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.
„Türkischer Staat setzt osmanische Massaker fort“
Wir betrachten Sie die Situation der Ezid:innen Efrîns vor dem Hintergrund von bald dreieinhalb Jahren Besatzung?
Die ezidischen Kurd:innen haben eine reiche Geschichte. Unsere Vorfahren leben seit tausenden von Jahren in Mesopotamien. Vor dem Şengal-Massaker gab es 72 weitere große Verfolgungswellen gegen unsere Gemeinschaft. Fast alle diese Massaker wurden vom Osmanischen Reich verübt.
Die Massaker an der ezidischen Bevölkerung dauerten bis zum Fall des Osmanischen Reiches an. Aber die Mentalität des Abschlachtens und deren praktische Umsetzung setzten sich im türkischen Staat fort. Der türkische Staat betrachtet das kurdische Volk als seinen größten Feind, das gilt insbesondere für ezidische Kurd:innen. Diese werden immer als Erste ins Visier genommen. Das liegt daran, dass das Regime weiß, dass die Ezid:innen das historische Gedächtnis des kurdischen Volkes sind und in ihrer Gemeinschaft die jahrtausendealte Geschichte weiterlebt.
„Die ganze Welt weiß um die Beziehungen zwischen Türkei und IS“
Der türkische Staat hatte auch beim 73. Massaker seine Hände mit im Spiel. Das war der Genozid durch den sogenannten IS in Şengal. Die ganze Welt weiß um die Beziehungen zwischen der Türkei und dem IS. Dessen Söldner kamen aus der ganzen Welt, durchquerten die Türkei und erreichten auf diese Weise Syrien und den Irak. So gewannen sie an Stärke. Das 73. Massaker fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Es wurde aufgezeichnet und verbreitet. Tausende Ezid:innen wurden getötet, Frauen entführt und in die Sklaverei verkauft.
Es waren sehr niederträchtige und schmerzhafte Geschehnisse. Die irakischen Streitkräfte und die PDK, die von sich behauptet hatten, Şengal schützen zu wollen, erfüllten ihre Pflicht nicht. Beim ersten IS-Angriff auf Ninive flohen die irakischen Regierungstruppen und überließen ihre Waffen dem IS. Der IS griff Şengal mit den Waffen an, die er der irakischen Armee geraubt hatte. Als sich der Irak zurückzog, blieben nur die PDK-Truppen in Şengal. Sie versprachen dem Volk: „Wir werden euch beschützen.“ Sie nahmen dem Volk sogar die Waffen weg, die es sich zur Selbstverteidigung beschafft hatte. In der Nacht, als der der IS Şengal angriff, gab es eine 12.000 Mann starke PDK-Truppe in Şengal, aber sie zog sich auf Befehl aus dem Gebiet zurück. So war unser Volk dem brutalsten Massaker und dem Genozid schutzlos ausgesetzt.
Zwölf HPG-Kämpfer haben interveniert
Heute weiß die ganze Welt; wären die zwölf HPG-Kämpfer nicht da gewesen, um zu intervenieren, wenn die YPG nicht innerhalb weniger Stunden einen Korridor von Rojava nach Şengal geöffnet hätten, hätte es ein noch größeres Massaker gegeben. Hätte die PKK nicht Guerillakämpfer:innen aus den Bergen Kurdistans geschickt, um in Şengal einzugreifen, wäre der Massenmord noch viel schlimmer ausgefallen und vielleicht wäre Şengal nicht vom IS befreit worden. Nach der Befreiung ist Şengal von neuem ins Visier des türkischen Staates geraten.
„Das erste Ziel bei der Efrîn-Invasion waren ezidische Dörfer“
Der türkische Staat war aufgrund der PKK- und YPG-Intervention nicht in der Lage, den Völkermord in Şengal zu vollenden. Nun folgte der nächste Schritt. Dieses Mal, am 20. Januar 2018, griff der türkische Staat vor den Augen der Welt mit allen möglichen Milizen, die er aus dem IS rekrutiert hatte, Efrîn an. Das erste Ziel des türkischen Staates bei dem Angriff auf Efrîn waren die ezidischen Dörfer. Damit vermittelte er die Botschaft: „Der IS konnte euch in Şengal nicht auslöschen, jetzt werden wir es in Efrîn machen.“ Schon 2012 hatte die vom türkischen Staat kommandierte, sogenannte syrische Opposition in Efrîn das ezidische Dorf Qestel Cindo angegriffen. Der Widerstand der YPG und YPJ in Qestel Cindo war legendär. Das gleiche gilt für die Orte Baflûnê und Basûfanê.
Der türkische Staat und seine Söldner marschierten in Efrîn ein. So wie der IS die ezidische Bevölkerung in Şengal massakriert hatte, ermordeten sie nun Ezid:innen in Efrîn. Der IS entführte ezidische Frauen in Şengal, in Efrîn wurden ezidische Frauen von der türkischen Armee und ihren Söldnern verschleppt. Der IS sprengte und zerstörte unsere heiligen Stätten und Plätze in Şengal. Der türkische Staat und seine Banden taten dasselbe in Efrîn. Niemand sollte behaupten: „Der türkische Staat hat das nicht getan, die Söldner haben es getan.“ All dies geschah auf Befehl und Planung des türkischen Staates hin. Die türkische Luftwaffe griff sogar Ain Dara an und zerstörte 3300 Jahre Geschichte.
Aber was sagt uns das? Der türkische Staat hasst die Kurd:innen, in erster Linie die Ezid:innen. So sehr, dass er sogar ihre Geschichte zerstören will. Er ist nicht nur dem kurdischen Volk feindlich gesinnt, sondern auch seiner Natur, seiner Geschichte, seinen Steinen und seinem Land.
Kein einziges ezidisches Dorf in Nordkurdistan
Der türkische Staat will alle Ezid:innen ermorden. Denn die kurdische Kultur wird weiterbestehen, solange nur ein Ezide lebt. In Nordkurdistan ist kein einziges ezidisches Dorf übriggelassen worden. Erst wurden die Ezid:innen ermordet, die übrigen durch Repression zermürbt. Dasselbe soll auch in Süd- und Westkurdistan geschehen. Es geht nicht nur um physische Vernichtung. Es werden Kultur und Geschichte zerstört. Wir dürfen die Pläne des AKP/MHP-Regimes gegenüber dem kurdischen Volk und insbesondere gegenüber den Ezid:innen nicht unterschätzen. Bei diesen Plänen handelt es sich um eine direkte Fortsetzung der osmanischen Politik.
„Ignoranz gegenüber Massakern in Efrîn entlarvt Heuchelei der Staaten und Institutionen“
Warum werden die Massaker in Efrîn von den Vereinten Nationen, die ja den Genozid von Şengal anerkannt hatten, nicht ernsthaft angegangen?
Ja, die ganze Welt akzeptiert und erkennt den Völkermord, den der IS in Şengal verübt hat, an. Wenn der türkische Staat und seine Söldner denselben Genozid, dieselben Plünderungen und dieselben Verschleppungen heute in Efrîn verüben, ignorieren dies die Staaten der Welt. Dies entlarvt die Heuchelei der Staaten und der Menschenrechtsorganisationen.
UN und EU sehen in dem Massaker durch den IS in Şengal einen Völkermord, während sie in Efrîn das Massaker an den Ezid:innen durch den türkischen Staat offensichtlich für legitim halten. Dies zeigt, wie sehr sie den türkischen Staat in Efrîn unterstützen. Bisher hat kein Staat die Besatzung von Efrîn durch die Türkei überhaupt als solche bezeichnet.
Die Vereinigten Staaten, die EU und die UN haben den IS-Genozid von Şengal anerkannt. Diese Kräfte unterstützen Rojavas Kampf gegen den IS, aber sie erkennen weder die Autonomie von Şengal noch die in Nordostsyrien an. In Rojava hat es im Kampf gegen den IS 11.000 Gefallene und 23.000 Versehrte gegeben.
„Şengal-Abkommen ist die Vorbereitung für ein neues Massaker“
Die PDK und die irakische Regierung haben ein Abkommen zur Aufteilung der Region Şengal geschlossen. Wie stehen Sie als Ezid:innen zu dem Abkommen?
Dieses Abkommen ist nichts anderes als die Fortsetzung des 73. Massakers. Es geht um die Umsetzung der Vernichtungspläne gegen die ezidische Bevölkerung. Der türkische Staat ist an diesem Abkommen zwischen dem Irak und der PDK beteiligt. Sogar als Datum der Bekanntgabe wurde der 9. Oktober gewählt. Dieses Datum erinnert an zwei Dinge: Den Beginn des internationalen Komplotts gegen den kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan am 9. Oktober 1998 und den Angriff auf Girê Spî und Serêkaniyê am 9. Oktober 2019.
Nach dem IS-Angriff im Jahr 2014 gründete die ezidische Bevölkerung von Şengal mit Unterstützung der HPG zum ersten Mal ihre eigenen Verteidigungskräfte unter dem Namen YBŞ. 2015 wurden die YJŞ, die Verteidigungskräfte der ezidischen Frauen, gegründet. Nach der Befreiung von Şengal formierten sich die Sicherheitskräfte der autonomen Selbstverwaltung unter dem Namen Asayîşa Êzîdxanê. Die Menschen in Şengal begannen, ihr Leben und ihre Zukunft neu zu organisieren und zu einer Kraft zu werden. Der türkische Staat hat Şengal jedoch erneut ins Visier genommen. Er steht, wie gesagt, hinter dem am 9. Oktober 2020 verkündeten Abkommen. Das Ziel dieser Vereinbarung ist es, einen neuen Völkermord an den Ezid:innen vorzubereiten. Dazu sollen die Ezid:innen völlig macht- und schutzlos gemacht werden.
„Autonomie und Selbstverteidigung sind auch nach irakischer Verfassung legal“
Wie Sie wissen, ist die Gründung der Autonomieverwaltung von Şengal, der YBŞ und der YJŞ gemäß der Verfassung des irakischen Staates legitim und legal. Die Parteien im Irak versuchen, die irakische Verfassung zu ihrem eigenen Vorteil zu missbrauchen. Warum halten sie es für legitim und legal, Milizen für sich selbst zu gründen, und warum soll dieses Recht nicht für die ezidische Bevölkerung gelten, die 73 Massaker erlebt hat? Ziel dieses Abkommens ist es leider, die vom türkischen Staat und dem IS begangenen Massaker fortzusetzen.
Der türkische Staat verübt Angriffe auf Guerillagebiete im Süden Kurdistans oder im Nordirak, aber die Regierung Südkurdistans schweigt. Sie sagt ja ganz offen: „Der türkische Staat hat das Recht, die PKK zu vernichten.“ Im Prinzip weiß die südkurdische Regierung ganz genau, sollte der türkische Staat in der Lage sein, die befreiten Gebiete, Zap oder Qendîl besetzen, wird er von dort aus nach Şengal marschieren und einen weiteren Genozid an den Ezid:innen verüben.
„Hegemonialstaaten sind in Morde an ezidischen Führungspersönlichkeiten verwickelt“
Bei der Ermordung der beiden ezidischen Führungspersönlichkeiten Zekî Şengalî und Zerdeşt Şengalî durch einen türkischen Luftangriff ging es darum, die Gesellschaft blind zu machen. Die Vernichtung der Führungspersönlichkeiten richtet sich gegen die Gesellschaft. Alle Hegemonialstaaten und auch die PDK sind in diesen Angriff verwickelt. Die Türkei, die PDK, die USA, die UN und der Irak versuchen alle, den Willen der Menschen in der Şengal-Region zu brechen und ein neues Massaker vorzubereiten. Die Bevölkerung von Şengal ist zu einem großen Teil noch immer auf der Flucht. Anstatt den Willen der Ezid:innen anzuerkennen, wollen sie uns von unserem Land nach Europa vertreiben.
Sie haben erklärt, dass Europa und die UN die ezidische Bevölkerung nach Europa locken wollen. Was soll der Zweck dieser Politik sein und wie bewerten Sie diese?
Sie erkennen den Völkermord an, den der IS in Şengal verübt hat, und sagen, dass „es notwendig ist, die Eziden zu schützen“. Aber was sie als Schutz bezeichnen, ist die Ezid:innen von ihren eigenen Häusern, ihrer Gesellschaft und ihren Erinnerungen zu trennen und nach Europa zu ziehen.
Dies ist eine schmutzige Politik, die zwar speziell auf die ezidische Bevölkerung abzielt, aber im Grunde gegen die kurdische Gesellschaft als Ganzes gerichtet ist. Sie tun nichts, um das Leben der Ezid:innen in ihrem eigenen Land zu schützen. So werden zum Beispiel Ezid:innen von Şengal bis Efrîn über Serêkaniyê massakriert, aber keine internationalen Institutionen, keine Menschenrechtsorganisationen kamen und unterstützten sie vor Ort. Niemand hat ihre Eigenständigkeit beachtet und ihre Autonomie anerkannt. Sie sagen: „Die Eziden haben keine Rechte. Flieht vor diesen Krieg und rettet euch, geht nach Europa.“
Im Moment stehen den Ezid:innen die Tore Europas offen. Vor allem Deutschland betreibt diese schmutzige Politik. Wenn sie die ezidische Bevölkerung anerkennen und wollen, dass sie überlebt, warum säubern sie dann ezidisches Land von seinen Bewohner:innen und unterstützen die Invasion des türkischen Staates? Die Vereinten Nationen verfolgen die gleiche Politik.
„Mit der Rojava-Revolution wurde das Ezidentum zum ersten Mal als Religion akzeptiert“
Wie bewerten Sie das Vorgehen gegenüber den Ezid:innen im weiteren Kontext der türkischen Aggression in der Region?
Zum ersten Mal seit einem Jahrtausend haben die Ezid:innen mit der Revolution von Rojava auf der Grundlage der Idee der Demokratischen Nation, die von Rêber Apo (Abdullah Öcalan) entwickelt wurde, Luft holen können. Sie bekamen ihre Rechte. Mit der Rojava-Revolution wurde das Ezidentum zum ersten Mal als Religion akzeptiert. Entsprechend unserer in Artikel 33 des Gesellschaftsvertrags von Rojava garantierten Rechte haben wir in Efrîn ein ezidisches Zentrum errichtet. Die Hegemonialstaaten wollen aber Rêber Apo und seine Ideen, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Völker zur Grundlage haben, ersticken. Es ist bekannt, dass Rêber Apo einem schweren Foltersystem ausgesetzt ist und die Isolation immer drastischere Ausmaße annimmt. Die Hegemonialstaaten und Kräfte wollen auf diese Weise verhindern, dass die Stimme und die Ideen von Rêber Apo die Menschen im Mittleren und Nahen Osten erreichen.
Wir als ezidische Gemeinschaft haben viele Massaker erlebt, aber im 20. Jahrhundert haben wir die Ideen von Apo gesehen und erlebt. Wir erlebten die Freiheit in Efrîn und die Praxis einer demokratischen Nation. In Serêkaniyê war es genauso. Nach dem großen Massaker in Şengal wurde eine demokratisch-autonome Verwaltung unter dem Paradigma der demokratischen Nation, nach den Ideen von Rêber Apo gegründet. Als ezidische Gemeinschaft sehen wir unsere Freiheit in den vier Teilen Kurdistans in den Ideen von Rêber Apo.
Heute gibt es einen großen Angriff auf die freien kurdischen Berge und die PKK-Guerilla. Die Kurdenfeinde versuchen, die kurdische und insbesondere die ezidische Gesellschaft zu liquidieren, indem sie ihre Verbindung zu Rêber Apo abschneiden und die PKK vernichten. Wir werden Rêber Apo und unsere Kräfte bis zum Ende verteidigen. Diese Kraft hat uns geschützt, die PKK hat uns geschützt.
Als ezidische Gesellschaft akzeptieren wir die Angriffe auf die PKK, also die Kraft, die unsere Existenz, unsere Rechte verteidigt und unsere Zukunft garantiert, nicht. Wir werden dagegen protestieren. Außerdem sollten wir als Ezid:innen unser Land nicht verlassen und Widerstand leisten.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen