„Erstmalig in der ezidischen Geschichte“ - Eindrücke aus Şengal
Der Hamburger Yavuz Fersoglu war im April mit einem Filmteam im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal im Nordirak. Für ANF schildert er seine Eindrücke von dem Versuch der Ezid:innen, zum ersten Mal selbst über ihr Schicksal zu bestimmen.
Die Hochebene von Şengal wird von der ezidischen Bevölkerung auf Kurdisch Serdeşt genannt. Sie liegt etwa 1400 Meter hoch und ist über das ganze Jahr hinweg grün. An den Hängen werden Feigen, Tabak, Trauben, Aprikosen und vieles mehr angebaut. Die Hochebene versorgt ihre Bewohner:innen jedoch nicht nur mit süßen und saftigen Früchten. Am 3. August 2014 haben sich Hunderttausende Ezid:innen vor dem Anrücken der IS-Schergen nach Serdeşt retten können. Die im Tal Zurückgebliebenen wurden entweder von den dschihadistischen Verbrechern hingerichtet oder verschleppt. Die irakische Armee und die Peschmerga der kurdischen PDK hatten vor dem Anrücken des IS die Flucht ergriffen und die ezidische Bevölkerung schutzlos ausgeliefert. Vorher hatten sie jedoch mit dem Versprechen, die ezidische Bevölkerung zu schützen, ihr die Waffen abgenommen.
Acht PKK-Kämpfer halten den IS auf
Alle Ezid:innen, die sich nach Serdeşt retten konnten, hatten eine Chance zu überleben - solange sie nicht an Hunger, Durst oder Krankheiten starben. Hunderte alte Menschen und Kleinkinder kamen so ums Leben. Nach Informationen der Überlebenden konnten sich am 3. August 2014 mehr als 300.000 Menschen auf die Hochebene retten. In Serdeşt waren es lediglich acht bewaffnete Kämpfer:innen der PKK, welche die Straßen verteidigten, damit der IS nicht eindringen konnte. Schnell wurde ein Verteidigungsring um Serdeşt und die Zufahrtswege aufgebaut. Der Bevölkerung wurde der Umgang mit Waffen beigebracht. Die acht Kämpfer:innen der PKK befehligten nach zwei Tagen um die 700 Menschen, welche teilweise nur mit Steinen oder Macheten bewaffnet waren.
Immer wieder soll der IS angegriffen haben, um den Verteidigungsring um Serdeşt zu durchbrechen, berichtet Davud, der bei der Verteidigung zwei Mal verletzt wurde. Mörser und Panzerfäuste gingen vier Tage lang auf Serdeşt nieder und Hunderttausende Menschen waren auf der Hochebene von IS-Schergen eingeschlossen. Ihre Hilferufe wurden nicht gehört, so der Lehrer Ido. Am Nachmittag des 8. August 2014 trafen aus dem Dorf Karsi die ersten Einheiten der YPG und YPJ ein. Sie hatten einen Korridor von der syrischen Grenze bis Serdeşt freigekämpft. Zum ersten Mal seit vier Tagen hatten die Eingeschlossenen wieder Hoffnung auf Überleben. Aus dem Tal stiegen noch Tag und Nacht Schreie, Rauchwolken und Kanonengeschosse bis auf die Hochebene.
Kein Dorf ohne Massengrab
Der IS trieb in jedem Dorf die ezidische Bevölkerung zusammen. Männer, Frauen und Kinder wurden getrennt abgeführt. Wer sich weigerte, wurde an Ort und Stelle hingerichtet. Dann wurden alle Männer, über vierzigjährige Frauen und Kinder älter zehn Jahre massakriert. Kaum ein ezidisches Dorf in der Tiefebene hat heute kein Massengrab. Es sollen 81 Massengräber sein, in denen der IS mit Bulldozern die Leichen zusammengehäuft und mit Erde zugeschüttet hatte. Nur ein einziges wurde bisher geöffnet und eine DNA-Analyse an den Leichen durchgeführt. Alle anderen sind lediglich umzäunt und warten darauf, identifiziert zu werden. Dies stellt für die Überlebenden eine nicht aushaltbare Situation dar. Auch deshalb, weil immer noch unklar ist, wer noch lebt, wer entführt wurde oder verschollen ist und wer in den Massengräbern liegt. Für die Orientierung und den Halt der Überlebenden ist dies ein lähmender Zustand. Es muss Gewissheit herrschen, damit die Toten bestattet werden und Ruhe finden können. Aber dazu gibt es keine Mittel, der Irak übernimmt das nicht und die internationale Gemeinschaft kümmert sich nicht darum.
„Unsere einzigen Freunde sind die Berge“
Immer noch wohnen Tausende Menschen auf der Hochebene von Serdeşt in notdürftigen Zeltstädten. Ihre Schaf- und Ziegenherden weiden auf dem grünen Gras der Hochebene. Von den Selbstverteidigungseinheiten sind Checkpoints eingerichtet worden und oben wird viel gebaut. Ein Teil der Bewohner:innen der Zeltstädten ist aus dem Exil zurückgekehrt und wartet darauf, dass Häuser gebaut werden. Andere harren aus, weil sie sich seit dem „Ferman“, wie das ezidische Volk das an ihm verübte Massaker nennt, dort in Sicherheit fühlen. Viele haben Angst, zurück in ihre Dörfer oder Städte zu gehen. Welche Rolle die Hochebene Serdeşt für die Menschen spielt, bringt Huso Tamo, der Vorsitzende des Şengal-Rates, auf den Punkt: „Unsere einzigen Freunde sind die Berge, nur Serdeşt hat uns gerettet.“
„Als Herren zurück an die Macht“
An den Hängen des Şengal-Gebirges wird alles Mögliche angebaut, allerdings immer noch mit klassischen bäuerlichen Mitteln. Auch Tierzucht ist hier verbreitet. Es reicht gerade so zum Überleben der Bevölkerung. Hilfe von außen kommt kaum an für die derzeit mehr als 200.000 Einwohner:innen des ezidischen Siedlungsgebietes. Fast 300.000 Ezid:innen leben noch hauptsächlich in den Flüchtlingscamps in Südkurdistan - auch als KRG (Kurdistan Regional Government) bekannt - und Zehntausende in Rojava. Die Rückkehrwilligen erhalten keinerlei Unterstützung. Eher im Gegenteil, sie werden daran gehindert, nach Şengal zurückzukehren, weil es angeblich dort noch nicht sicher sei. Dies wird jedoch auch deshalb behauptet, weil eine Selbstständigkeit der Ezid:innen nicht erwünscht ist. KRG und die irakische Zentralregierung wollen nach dem Sieg über den IS - vor welchem sie geflohen waren - nun als Herren zurück an die Macht.
Demografische Veränderung seit Saddam
Es scheint das Ziel der KRG und des Irak zu sein, dass die Menschen aus Şengal nicht zurückkehren. Denn in dem Gebiet floriert die Landwirtschaft, zweimal im Jahr gibt es hier Ernte. Saddam Hussein ließ riesige Bewässerungsanlagen für die Landwirtschaft anbauen und die Ezid:innen von ihren Ländereien vertreiben. Stattdessen wurden arabische Clans nach Şengal umgesiedelt. Dieses Vorhaben des Saddam-Regimes könnte nun gänzlich in Erfüllung gehen.
In Hewlêr (Erbil) berichtete ein junger Mann, der als Verkäufer an einem Stand im Basar arbeitet und aus Şengal stammt, dass er und seine ganze Familie gerne zurückkehren möchten, aber keine Mittel dafür hätten und niemand sie dabei unterstützen würde. Ihr Haus sei durch den IS zerstört, ihre Tiere hat die Familie bei dem „Ferman“ verloren.
„Unter den Ruinen liegt der Schmerz“
Die Städte und Dörfer in Şengal liegen in Schutt und Asche. Kaum mehr ein Haus ist bewohnbar. Die Bewohner:innen haben verschiedene Kooperativen aufgebaut. Es gibt in allen Städten und auch Dörfer Kooperativen von Bäckereien, Lebensmittelläden, Wasserversorgung, Landwirtschaft, Baumaterialien und vieles mehr. Es wird versucht, die Infrastruktur in den Ruinen des Krieges wieder aufzubauen. In den Ruinen liegt aber auch sehr Schmerzhaftes begraben. Desto mehr versucht wird, die Ruinen zu entfernen, umso mehr kommt der Schmerz zum Vorschein. So nur ein Beispiel: Ein ehemaliges Frauengefängnis des IS in Tell Hezir, in welchem ezidische Frauen eingekerkert waren, die sich dem IS verweigerten. Unterhalb des Gefängnis ist eine tiefe Grube, in welche die Frauen bei lebendigem Leib nach Misshandlungen und Folter geworfen wurden. Die Grube ist voll mit Knochen und Stoffresten. Niemand von den Einheimischen traut sich hier heran. Und niemand kümmert sich um diesen Schmerz der Ezid:innen.
Selbstbestimmung und Geschlechterbefreiung
Die Ezid:innen haben einen Selbstverwaltungsrat gegründet, welcher die alltäglichen Arbeiten koordiniert und versucht, die Probleme zu lösen und die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen. Die Infrastruktur, wie etwa Müllabfuhr, Gesundheits-, Strom- oder Wasserversorgung, läuft über die Selbstverwaltung. Auch das Bildungssystem wird hierüber neu aufgebaut, in den Schulen wird jetzt Kurdisch in lateinischer Schrift unterrichtet. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die ezidische Lehre Teil des Schulunterrichts. Die Sicherheit der Bewohner:innen wird von den Asayîş und den YBŞ/YJŞ gewährleistet.
Basierend auf der demokratischen Selbstbestimmung werden zudem Strukturen geschaffen, mit denen eine Geschlechterbefreiung erreicht werden soll. So sind alle Institutionen mit einer genderparitätischen Doppelspitze besetzt. Erklärtes Ziel ist die Überwindung der bisherigen hierarchischen Strukturen. Auch ein ökologisches Leben mit der Natur wird immer mehr zum erklärten Ziel der Selbstverwaltung. Unter den genannten Bedingungen ist es noch sehr schwierig, aber es wird ein basisdemokratisches Gesellschaftsmodell angestrebt.
Jedoch ist diese Art der Selbstverwaltung der irakischen Regierung und der PDK ein Dorn im Auge. Und unter dem Druck der Türkei, die alle kurdischen Autonomieansprüche im Keim ersticken will, versuchen sie dagegen vorzugehen.
Zum ersten Mal in der ezidischen Geschichte
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte versuchen die Ezid:innen, die Initiative für sich selbst zu ergreifen und sich selbst zu bestimmen. Selbstbestimmung und eigene Sicherheits- und Verteidigungskräfte bedeuten für sie auch aufgrund der Geschichte der Genozide zum ersten Mal Sicherheit. Denn das letzte Beispiel hat gezeigt, dass sie von (fast) allen im Stich gelassen werden und sich auf niemanden verlassen können. Aber der Irak hat auf Druck der Türkei im Oktober 2020 eine Übereinkunft getroffen, nach welcher die ezidischen Selbstverteidigungseinheiten aufgelöst werden sollen und stattdessen wieder die irakische Armee und die Peschmerga in Şengal für Sicherheit sorgen sollen. Die türkische Luftwaffe fliegt immer wieder gezielte Luftangriffe auf menschliche und infrastrukturelle Ziele in Şengal, mit der Behauptung, die PKK anzugreifen. Aber nicht nur die Selbstverteidigungseinheiten sollen aufgelöst werden - weder der Irak noch die PDK möchten, dass etwas von der Selbstverwaltung in Şengal übrig bleibt. Die Ezid:innen weigern sich, wieder unter dem Joch der PDK und des irakischen Regimes zu leben. Und diese wollen den Wiederaufbau der Region und die Rückkehr der Ezid:innen weder unterstützen noch akzeptieren, solange die Selbstverwaltung nicht aufgelöst ist.
Die Hunde des IS
Unter diesen Umständen findet die Rückkehr der Geflüchteten aus Şengal nur langsam und rein in Selbstinitiative statt. Und so sind die Städte der Ezid:innen den Hunden überlassen, die vom IS hergebracht wurden. Die Ezid:innen selbst halten in Städten keine Haustiere. Auch werden Tiere nur zum Verzehr geschlachtet oder als Nutztiere gehalten. In den Städten Şengals bellen nun die Hunde Tag und Nacht. „Die Hunde des IS“ werden sie genannt. Aber nach der ezidischen Lehre dürfen Tiere nicht einfach so getötet oder vertrieben werden. Der einzige Ort, an dem sich keine Hunde des IS befinden, ist Serdeşt. Die Hochebene hat ihre Bewohner:innen geschützt und ihre Bewohner:innen schützen sie. Deshalb entstehen die Siedlungen, die neu gebaut werden, hauptsächlich um Serdeşt herum. Der Grund hierfür ist offensichtlich.
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