Michael Wilk berichtet aus Rojava
Der Wiesbadener Mediziner Dr. Michael Wilk berichtet aus den Zeltstädten Waşokanî und Serêkaniyê bei Hesekê über die von türkischen Angriffen und Lockdown geprägte Situation der Menschen im Autonomiegebiet Nordostsyrien.
Dicht neben der Corona-Kinik Waşokanî befindet sich ein Camp für Geflohene. Hier leben 14.000 Menschen in Zelten unter widrigsten Bedingungen. Ebenfalls bei Hesekê, Großstadt/Umland mit ca. einer Million Einwohner*innen, liegt das zweite Camp Serêkaniyê mit 11.000 Bewohner*innen. Das Camp ist benannt nach der Stadt gleichen Namens, die im Oktober 2019 von türkischer Armee und islamistischen Truppen des Präsidenten Erdogan überfallen wurde. Serêkaniyê war eine schöne, mehrheitlich kurdisch bewohnt Stadt, direkt an der Grenze der Türkei gelegen. Auf der anderen Seite der politischen Demarkationslinie leben ebenfalls kurdische Menschen, getrennt von ihren Verwandten in Syrien, durch eine von Siegermächten nach dem Ende des Osmanischen Reichs gezogene Grenze.
Soziale Veränderung in Eigenverantwortung
Unterdrückt wurde die kurdische Bevölkerung auf beiden Seiten. Im zunehmenden Machtverlust des Machthabers Assad jedoch, ausgehend vom Arabischen Frühling, konnte sich im Norden Syriens eine selbstbestimmte Autonomiebewegung etablieren, die basisdemokratische Prinzipien und die Gleichstellung von Mann und Frau zu ihren Zielen erklärte. Es gelang in der Folge nicht nur unter hohen Opfern den terroristisch-islamistischen IS zu vertreiben, sondern sich auch gegenüber dem Assad-Regime zu behaupten. Die Erweiterung und Festigung des Gebiets in Nordostsyrien, die Einbeziehung aller im Gebiet lebenden Ethnien in den Versuch einer selbstbestimmten Gesellschaft und vor allem die veränderte gesellschaftliche Position der Frauen entwickelten sich positiv. Ein vielbeachtetes Beispiel sozialer Veränderung in Eigenverantwortung, im extremen Kontrast zu den Gesellschaftsstrukturen der umgebenden Länder und geradezu ein Albtraum der Islamisten und der autoritären Autokraten vom Schlage Erdogans.
Bündnisverpflichtungen gegenüber dem Erdogan-Regime
Die stark zerstörte Infrastruktur Rojavas konnte zum Teil aufgebaut, Häuser, Schulen und auch Kliniken instandgesetzt werden, weitgehend aus eigener Kraft und mit Hilfe internationaler Spenden. Staatliche Hilfe aus dem Ausland blieb fast völlig aus, der hohe Blutzoll im Kampf gegen den IS mit über 10.000 Toten und 20.000 Verletzten wurde nicht mit Aufbauhilfen vergolten, zu schwer wiegen die Bündnisverpflichtungen gegenüber dem Erdogan-Regime, der NATO-Partnerschaft, der Ökonomie und vor allem dem Türsteherfunktion der Türkei gegenüber Flüchtlingen.
Deutschland und EU sind mitschuldig an türkischen Verbrechen
Das Wegducken und die Stillhaltepolitik des Westens setzte sich auch fort, als Erdogan mehrfach militärisch in die Gebiete Rojavas einmarschierte. Durch die Invasion Efrîns im Frühjahr 2018 und die des Gebiets zwischen Serêkaniyê und Girê Spî 2019 wurden hunderttausende Menschen aus ihren angestammten Gebieten vertrieben, es gab viele Tote und Schwerverletzte. Die EU und die deutsche Regierung unternahm nichts und machte sich nicht nur durch fortgesetzte Waffenlieferungen mitschuldig an Invasion und Verbrechen. Immer noch leben Tausende, die nicht bei Verwandten unterkommen konnten oder über die Mittel zum Bau eines neuen Hauses verfügen, in Schulen, oder schlimmer noch in Zeltstädten. Wie eben auch hier in den Camps Waşokanî und Serêkaniyê mit 25.000 Menschen.
Wirtschaftliche Belastung durch Lockdown
Nebenan in der Corona-Klinik des Kurdischen Roten Halbmonds (Heyva Sor a Kurd) ringen die Menschen um Luft. Die Pfleger*innen des kurdischen Halbmonds tun mit knappen Mitteln alles in ihrer Kraft Stehende. Der ausgerufene Lockdown ist notwendig, aber ökonomisch belastend für die vom Krieg und den Attacken Erdogans erschöpfte Region.
Der Einsatz und die Verteilung der rettenden Vaccine spiegeln nicht zuletzt auch die weltweiten Macht-, Privilegien- und Herrschaftsverhältnisse wider. Bisher wurden weltweit ca. Zweidrittel der Vaccine an nur sechs Länder geliefert. Hier im Camp Waşokanî ist noch kein Impfstoff angekommen, ebenso wenig im Rest der Region. Dabei wird er so dringend benötigt.
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