Vererbte Traumata: Den Teufelskreis durchbrechen
Jan Ilhan Kizilhan (mitte) trifft Frauen und Kinder in der Nähe der irakischen Stadt Khanike. Foto: Jan Ilhan Kizilhan
Gewalterfahrungen über Generationen hinweg bis in die Gegenwart: Für die Volksgruppe der Yeziden ist das trauriger Teil ihrer Geschichte. Eltern geben Traumata unbewusst an ihre Kinder weiter. Diese leiden. Psychologe und Trauma-Experte Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan erklärt die besonderen Herausforderungen einer Therapie.
Was versteht man unter intergenerationalen Traumata?
„Inter“ steht für „zwischen“. Gemeint ist mit dem Begriff also ein Trauma zwischen den Generationen. Ich vertrete eher die Bezeichnung „transgenerationale“ Traumata. Das heißt, die Vorfahren der heute lebenden Generation haben traumatische Erlebnisse durchgemacht, die sie nachhaltig beeinflusst haben – sowohl physisch als auch psychisch. Durch sie haben sie vielleicht unter Albträumen oder Ängsten gelitten, hatten vielleicht schwere Intrusionen (unkontrollierbares Wiedererinnern und Wiedererleben traumatischer Erlebnisse, häufig ausgelöst durch einen Schlüsselreiz; Anm. d. Red.). Das beeinflusste die Erziehung ihrer Kinder, indem sie ihnen zum Beispiel bestimmte Verhaltensweisen vorgaben: Geht nicht auf die Straße, traut den Menschen nicht. Die Ängste und Verhaltensweisen, aber auch das Denken der Eltern, werden so an die nächste Generation weitergegeben.
So etwas hat Auswirkungen. Studien zu indigenen Völkern in Nordamerika zeigen, dass die Urenkel von Überlebenden 150 bis 160 Jahre nach den Massakern noch unter den Folgen leiden: Ihr Immunsystem ist geschwächt, sie haben Diabetes, Bluthochdruck und andere Erkrankungen. Anscheinend finden aufgrund des erhöhten Stresses Veränderungen auf DNA-Basis statt. Das heißt, wenn man ständig unter Anspannung ist und dies an die Kinder weitergibt, dann reagiert der Körper.
Bei vielen Minderheiten in der Welt, vor allem bei denen im Nahen Osten, hat aber nicht nur ein Ereignis stattgefunden, sondern mehrerer Ereignisse über Generationen – bei den Yeziden, den Kakais, den Mandäern, den Christen und jüdischen Gruppen… Die Yeziden zum Beispiel haben in den vergangenen 800 Jahre etwa 72 bis 74 Genozide erlebt. Die Erinnerung ist von Generation zu Generation weitergegeben worden: in den Familien, der Community aber auch durch die Religion und die Kultur.
Wie meinen Sie das: „durch die Religion und die Kultur“?
Die Genozide sind in ihren Liedern, in ihren Geschichten, in ihren Ritualen und Zeremonien ein Bestandteil ihrer Kultur geworden. Die yezidische Religion ist eine der ältesten Religionen des Nahen und Mittleren Ostens. Die Gemeinschaft hat wie alle alten, patriarchalen Religionen durch Narration, durch die Erzählung, ihre Religion weitergegeben. Eine der wichtigsten Institutionen des Yezidentums sind die Qewals. Die Qewals haben seit 800 Jahren die Aufgabe, die Geschichte der Yeziden auswendig zu lernen und an ihre Kinder weiterzugeben. Sie wanderten früher von Dorf zu Dorf, erzählten die Geschichten und integrierten in die Erzählungen, was Neues passierte. Die Qewals wurden im Gegenzug von der yezidischen Gemeinde mit Lebensmitteln und allem, was sie brauchten, versorgt. Die Geschichtenerzähler tragen die Sorge dafür, dass die Geschichte nicht ausstirbt und die nachfolgenden Generationen eine Identität haben.
Ein bestimmter Begriff hat sich in die Narration der Yeziden eingeprägt: Ferman. Er ist gleichbedeutend mit Holocaust. Eigentlich ist Ferman ein osmanischer Begriff für eine militärische Entscheidung. Doch im Osmanischen Reich gab es so viele Massaker gegen die Yeziden, dass der Begriff diese Bedeutung annahm. Wenn Sie heute kleine Kinder im Irak oder auch hier in Deutschland fragen, was Ferman bedeutet, weckt das die Erinnerungen an Überlebenskampf und Massaker. Der Begriff ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen – und das kollektive Gedächtnis macht eine Gruppe erst zu einer Gruppe.
Was sind die Risiken von vererbten Traumata für ein Kind?
Das Kind weiß selbst nicht, warum es gerade so fühlt und handelt. Es kann keinen Zusammenhang zur jetzigen Befindlichkeit herstellen. Es ist im Augenblick nichts passiert und dennoch fühlt sich das Kind nicht wohl. Das geht Erwachsenen manchmal auch so. Wir nennen das eine „Floating Gap“, eine fließende Lücke mit emotionalen Inhalten aber keinem Zugang zu den Ereignissen. Das können Verhaltensweisen sein, die Vorfahren schon ihren Eltern beigebracht haben: Immer devot zu sein, keine Aggressionen zu zeigen, immer lieb zu sein. Das Lieb-Sein ist mir häufig bei Minderheiten im Nahen und Mittleren Osten aufgefallen, fast störend, fast nervig. Und dann fragte ich mich, wieso machen sie das? Irgendwann habe ich verstanden, dass es eine Überlebensstrategie der Mehrheitsgesellschaft des Islam gegenüber ist: Ich muss zu denen nett sein, dann besteht nicht die Gefahr, dass sie irgendetwas gegen mich oder meine Familie unternehmen. Das spiegelt sich auch in den Ritualen: Essen anbieten, Tee trinken. Es sind Überlebensstrategien, aus denen irgendwann kulturelle Höflichkeiten entstanden.
Das heißt, hier lernen Kinder früh, sich gegenüber Fremdgruppen anders zu verhalten als gegenüber der eigenen Gruppe. Sie lernen, dass Fremde sie als Angriffsziele betrachten. Das hat Einfluss auf die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Wenn ihnen beigebracht wird, ihr müsst vorsichtig sein, ihr dürft niemandem trauen, ihr dürft nicht über alles sprechen und die Mehrheit kann mit euch machen, was sie will, entwickeln sie keinen ausreichenden Selbstwert.
Bei den Yeziden kommen verschiedene Arten von Traumata zusammen: Das kollektive Trauma durch den Völkermord 2014 an ihnen durch den sogenannten Islamischen Staat (IS), die individuellen Traumata durch persönlich erfahrenes Leid und die vererbten Traumata. Wo setzt man da mit einer Therapie an?
Diese drei Typen von Traumata müssen wir in die Psychotherapie integrieren. In der Regel fokussieren wir uns auf das individuelle Trauma. Jemand hat etwas erlebt und wir versuchen, dass die Person durch die Psychotherapie lernt, damit umzugehen. Wenn eine junge Yezidin zum Beispiel vergewaltigt wurde, fragt sie sich: „Warum ist mir das passiert?“ Es geht darum, wie sie mit dem Scham- und zum Teil auch Schuldgefühl umgehen kann, wie sie lernt, dass das Leben trotzdem weitergeht. Aber genau in diesem Fall greifen die drei Traumata ineinander. Sie erinnert sich an die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern, die von Versklavung yezidisicher Frauen auf den Märkten in Istanbul, Bagdad und Kairo erzählen. Die Geschichte ihrer Vorfahren vergegenwärtigt sich. Deswegen empfehlen wir, in der ersten Phase der Therapie mit den Patienten über transgenerationale Traumata zu sprechen: Was wissen sie über ihre Vorfahren? Wie weit beeinflussen diese Geschichten ihr Leben und ihre aktuelle Situation?
Die transgenerationalen Traumata haben die Menschen schon vor dem IS in ihrem Verhalten gegenüber der muslimischen Gemeinschaft beeinflusst. 2007 war zum Beispiel eine der größten Bombenexplosionen der Al-Qaida gegen die Yeziden. 300 bis 500 Menschen sind getötet worden. Da fing es schon an, dass die Traumata der Vorfahren reaktiviert und Bestandteil des Diskurses wurden. Dann kam der 3. August 2014. Das Ziel des IS war es, die Yeziden tatsächlich auszulöschen. Es ging nicht darum, ein paar Kinder oder ein paar Frauen mitzunehmen, um Macht zu demonstrieren. Es ging darum, diese Gruppe zu vernichten. Damit waren alle Yeziden zu einer gemeinsamen Zeit betroffen. Manchmal ist es hilfreich das zu sagen, um der Patientin zu zeigen, dass sie eben nicht die Einzige ist, die betroffen war. Alle waren betroffen. Der 3. August 2014 war der Beginn eines erneuten kollektiven Traumas der Yeziden.
Implementieren wir diese drei Elemente nicht in die Psychotherapie, sondern bleiben bei der individuellen Traumaverarbeitung stehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir durch die modernen Techniken der Therapie zwar die Symptome eines Patienten reduzieren, aber den Zusammenhang zwischen den drei Typen der Traumata, also transgenerationale, kollektive und individuelle Traumata, die miteinander verwoben sind, nicht lösen. Nach einem erneuten Stress, vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in einem Jahr, kommt es zu einer Symptomverschiebung und der Patient sitzt mit anderen Problemen wieder bei uns. Alle drei Typen von Trauma gehören zueinander, weil sie in einer Person sind.
Sie therapieren nicht nur in Deutschland Kinder, sondern auch im Nordirak. Ist die Arbeit im Irak anders als in Deutschland?
Grundsätzlich gibt es im Irak schon mal nicht so viele Therapeuten – schon gar keine ausreichend ausgebildeten Kinderpsychotherapeuten, die auch noch die Sprache können. 2017, als wir mit einem Masterstudiengang für Psychotherapie und Psychotraumatologie im Nordirak anfingen, gab es nur 26 Therapeuten im ganzen Nordirak. Aktuell gibt es fünf Psychiater in der Provinz Dohuk, wo wir arbeiten, bei 1,5 Millionen Einheimischen und nochmal 350.000 Flüchtlingen. Alleine das sind schon Probleme.
Bei den Kindern haben wir verschiedenen Gruppen, die unterschiedlich schwer belastet sind. Haben sie selber Dinge erlebt? Haben sie Dinge beobachtet? Bei manchen ist die Traumatisierung im Zuge der Flucht passiert. Dann haben wir die Gruppe der Kindersoldaten, die aktiv an der Waffe ausgebildet wurden, denen gezeigt wurde, wie man jemandem den Kopf abschneidet. Die dritte Gruppe sind Kinder, die nicht in den Kriegsgebieten, die nicht in Sinjar waren, aber als Yeziden in Sheikhan und anderen Gebieten von den Taten gehört haben.
Bei Kindersoldaten gibt es immer viele NGOs, die helfen und unterstützen wollen. Das ist auch gut. Aber es sind immer Kurzzeitprojekte. Die kommen für ein paar Monate, machen irgendwelche Gestalttherapien, Malereien… Das ist nett, aber das ist nicht ausreichend. Wenn wir Kindersoldaten helfen wollen, brauchen wir interdisziplinär Therapeuten, Mediziner, Lehrer, die Eltern oder Geschwister, falls es sie noch gibt. Gemeinsam müssen alle über eine lange Zeit mit den Kindern arbeiten.
Ein Beispiel: Ein Junge, etwa acht Jahre, kam frei. Als er seine Mutter wiedertraf, hat er drei Monate nicht mit ihr gesprochen. Mit mir hat er gesprochen. Also fragte ich ihn: ‚Warum sprichst du denn nicht mit deiner Mutter?‘ Er antwortete: ‚Die hat mich im Stich gelassen.‘ Das Urvertrauen dieses Kindes war erschüttert. Kinder glauben, und so sind alle Kinder: wenn etwas passiert, schützen mich meine Mutter und mein Vater. Bei Problemen helfen sie mir. Bei dem Jungen hatten Mitglieder des IS seinen Vater und seinen Großvater vor seinen Augen hingerichtet. Dann haben sie ihn von seiner Mutter getrennt, damit er Kindersoldat werden sollte. Dadurch ist bei ihm das Vertrauen in die engste Beziehung, das ist die zur Mutter, gebrochen.
Viele Kinder haben mich auch gefragt: ‚Herr Doktor, warum sind die Menschen so böse?‘ Sie haben erfahren, dass die Menschheit ihnen nur Böses gebracht hat, nichts Gutes. Das Vertrauen in die Menschheit ist weg. Und dieses müssen wir wiederaufbauen. Wir müssen das Herz der Kinder wiedergewinnen. Wenn wir es nicht schaffen, dass sie wieder Vertrauen in den Menschen und in die Menschheit fassen, werden sich diese Kinder nirgendwo in eine Gesellschaft reintegrieren. Sie werden viele aggressive Impulse in sich haben, Wut in sich haben, viele Fragezeichen, die sie nicht klären können. Dann ist die Gefahr, dass sie bei radikalen Organisationen landen, sehr groß. Deswegen ist soziale Unterstützung unglaublich wichtig.
Wenn wir in Krisengebiete schon keine Experten schicken können, müssen wir wenigstens schauen, dass Kinder eine ausreichende soziale Unterstützung haben. Wir müssen die Familie unterstützen. Wir müssen alles Mögliche tun, damit die Kinder zur Schule gehen. Wir wissen aus Studien, dass Kinder deutlich weniger körperliche Beschwerden haben, wenn sie zur Schule gehen. Sie haben dann eine Tagesstruktur. Sie können sich mit anderen Kindern auseinandersetzen. Daher ist es auch in Flüchtlingscamps sehr wichtig, dass es trotz aller Schwierigkeiten Schulen gibt – sei es in einfachen Zelten. Es ist das mindeste Mittel, das wir versuchen sollten einzusetzen.
Wie können Eltern, Großeltern oder eine Gemeinschaft Kinder vor den Traumata ihrer Eltern schützen?
Den Eltern muss erstmal bewusst sein, dass sie vielleicht auf Grund schlimmer Erlebnisse traumatisiert sind. Transgenerationale Traumata werden ja weitergegeben, ohne dass eigene stattgefunden haben – etwa durch Erzählungen. Die Kinder verändern sich durch die Geschichten, werden emotional anders, werden trauriger, bekommen Ängste. Das heißt, hier haben wir es mit zwei Zielgruppen zu tun, rein wissenschaftlich gesehen. Mit den Älteren oder den Eltern sprechen wir darüber, worüber sie mit ihren Kindern sprechen oder nicht sprechen sollten – und wenn sie mit ihren Kindern über traumatische Geschichten sprechen, wie sie sie ihnen erklären, ohne ihnen den Mut und ihr Vertrauen zu nehmen. Traumata sind Dinge, an denen wir auch wachsen können. Wir können sagen, jetzt weiß ich erst recht, wie wertvoll das Leben ist. Jetzt schätze ich das Leben mehr und versuche, mit wenigen Dingen, die ich habe, zufrieden zu sein und bewusster das Leben wahrzunehmen. Das ist es, was wir in der Psychotherapie auch den Frauen vermitteln wollen: Gibt es schlimmere Dinge, die sie erleben könnten, als Geiselhaft, Vergewaltigung, Folter – und das vor der ganzen Familie? Nein, gibt es nicht. Nehmen Sie sich das Recht zu sagen: Ja, jetzt will ich erst recht leben!
Das kann man durch eine Traumapädagogik auf einfachstem Niveau den Kindern, aber auch den Eltern beibringen. Nachfolgende Generationen geben dann nicht automatisch und unreflektiert Traumata weiter. Es ist eine Möglichkeit, den Teufelskreis der transgenerationalen Traumata zu durchbrechen.
Daran anschließend: Kinder sind die Zukunft einer Gemeinschaft. Wie schätzen Sie die Zukunftsaussicht der yezidischen Gemeinschaft ein?
Im Irak leben noch etwa 550.000 Yeziden. Davon sind etwa 300 bis 350.000 seit sechs Jahren in Flüchtlingscamps. Ihr Siedlungsgebiet in Sinjar ist von verschiedenen Gruppen besetzt: Kurden, Araber… Sie kämpfen um dieses Gebiet. Unter den Kämpfern sind auch viele Yeziden. Wenn dort eine politische Perspektive den Yeziden gewährleisten würde, dass sie zurückkehren könnten, dass sie in der Verfassung geschützte Rechte mit einer Selbstverwaltung bekämen, dass sie selbst entscheiden dürften, wer ihr Gouverneur wird, dass sie teilhaben würden an Bildung, Sicherheit, Verwaltung und an der Gesellschaft, dann könnten sie ihre Religion wiederaufleben lassen. Der irakische Staat, die Kurden und die internationale Gemeinschaft müssten dieses völlig zerstörte Sinjar wiederaufbauen. Wenn das passiert, gibt es Hoffnung für die Yeziden. Und vielleicht hat die nächste Generation dann mehr Glück und Chancen als die vorherigen.
Sollte es noch dauern, bis eine solche Perspektive überhaupt denkbar wird, werden die Yeziden versuchen, den Irak zu verlassen. Seit 2014 haben das schon mehr als 120.000 Yeziden getan. Die meisten sind nach Deutschland, aber auch weltweit nach Australien, Amerika und in andere Länder gegangen. Die Yeziden sind eine Gruppe, deren Überlebensstrategie es über mehr als 800 Jahre war, sich in den Bergen Kurdistans zu isolieren. Jetzt sind sie überall auf dem Planeten verteilt. Darauf waren sie nicht vorbereitet. Es besteht die Gefahr, dass sie diese Folge des Genozides nicht überleben und wir irgendwann, in drei bis vier Generation, keine Yeziden als Gruppe mehr haben werden. Beide Perspektiven sind im Augenblick möglich. Ich wünsche mir natürlich die erste.
Johanna Fischotter führte das Interview am 10. November per Videoanruf. Thelma Divry half, die Fragen zu konzipieren. Lisa Olsson transkribierte das Interview.
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