Die Kraft der Frauen: Şengal als Theaterstück
Wie es ein Theaterstück schafft, einen anderen dokumentarischen Blick auf die Krisenregion im Nordirak zu werfen, als es die Massenmedien tun, beschreibt Gastautor Georg Geiger in seiner Kritik des Theaterstücks „Shengal – Die Kraft der Frauen“.
Als ich in meiner Maturklasse ankündigte, dass wir das Theaterstück „Shengal – Die Kraft der Frauen“ der Volksbühne Basel unter der Regie von Anina Jendreyko besuchen würden, meldete sich der Vater einer kurdischen Schülerin und fragte an, ob er auch mitkommen dürfe. Ich saß am Theaterabend Ende Oktober neben ihm und bemerkte an seinem schnellen Atem, wie ihn diese Vorführung in Bann zog. Er kannte die Problematik natürlich aus seiner eigenen Biographie und er erkannte zum Teil einzelne Personen, die in der Zwischenzeit von türkischen Drohnen ermordet worden waren. Er war an diesem Abend im Publikum nicht der einzige Betroffene, denn es war kein bildungsbürgerliches Publikum, das sich hier im geschützten Theaterraum erzählen ließ, wie die ezidischen Frauen und Männer aus dem Şengal-Gebiet nach der Befreiung vom IS begannen, auf den Ruinen des Krieges ein neues Gesellschaftsmodell aufzubauen. Nein, es war ein wirklich gemischtes Publikum, Jung und Alt, Frauen und Männer, Migrant*innen, Secondos und Secondas.
2019 hatte Anina Jendreyko in der Reihe „außereuropäisches Theater“ in Krefeld/Mönchengladbach die Gelegenheit, eine Textvorlage zu den Ereignissen im Şengal 2014 zu entwickeln. Zweimal begab sie sich in Begleitung eines kleinen Teams zu Recherchen in den Nordirak. Danach stand die Erarbeitung einer ersten Textvorlage im Vordergrund. Wie kann man die geführten Gespräche und Interviews angemessen und verantwortungsvoll vermitteln? In ständiger Auseinandersetzung, die zum Teil von zwei Frauen des ezidischen Frauendachverbandes begleitet wurde, kam eine Textfassung zustande, die unter dem Titel „Jin Jiyan – der Aufbruch“ dem Publikum vorgestellt wurde. Die Reaktionen waren sehr ermutigend.
„Ich habe mich wie in Şengal gefühlt und gar nicht mehr wahrgenommen, dass ich in einem Theaterraum sitze. Danke für das wundervolle Stück, das viel mehr war als ein Theaterstück“, schrieb etwa Sebriye Savgat, Vorstandsfrau vom Dachverband des ezidischen Frauenrates. Oder die Traumafachreferentin Maria Zemp meinte: „Die Reduktion der schauspielerischen Stilmittel und des Bühnenbildes, die sehr genauen Kenntnisse und das große Einfühlungsvermögen der Regisseurin in die Menschen vom Şengal, ihre konsequent solidarische Haltung machen möglich, dass die Schauspieler*innen nur stellvertretendes Sprachrohr der dargestellten Geschichten der Ezid*innen sind, und diese eben nicht wie einmal mehr als Statist*innen auf einem Kriegsschauplatz enteignet werden.“
Nun musste die Textvorlage überarbeitet und ergänzt werden, vor allem mussten adäquate Darstellungsformen gefunden werden, die die Verbrechen des IS an der ezidischen Bevölkerung wiedergeben können, ohne jedoch die betroffenen Ezid*innen damit zu verletzen, zu stigmatisieren oder zu benutzen. Über Jahrhunderte hinweg erlebte dieses Volk Verfolgung, Unterdrückung, Zwangskonvertierung zum Islam und unzählige Genozide. Die ezidischen Interessen wurden weder im Osmanischen Reich noch bei der Staatsgründung des Iraks oder beim Aufbau der modernen Türkei nach dem Ersten Weltkrieg berücksichtigt. Als im August 2014 der IS den Şengal überfiel, zogen sich die Peschmerga (PDK) und der irakische Staat zurück und überließen die Ezid*innen einfach ihrem Schicksal. Kämpferinnen und Kämpfern der kurdischen Befreiungsbewegung gelang es dann aber doch noch, einen
Korridor durch das vom IS besetzte Gebiet freizukämpfen und den drohenden Genozid zu verhindern. Die Rettung vieler Ezid*innen und die Befreiung und Rückkehr der vom IS verschleppten Frauen löste innerhalb der ezidischen Bevölkerung und auch in der Diaspora einen intensiven innergesellschaftlichen Diskurs aus, der diese sehr nach innen orientierte und äußerst patriarchal strukturierte Gesellschaft bis heute tiefgreifend bewegt.
Vor diesem Hintergrund wird in dem Theaterstück versucht, exemplarisch die Geschichte von Feride, einer jungen ezidischen Frau, zu erzählen, deren Familie knapp dem IS entkommen war und die heute wieder im Şengal lebt und sich am Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen beteiligt. Diese Familiengeschichte wird durch Erzählungen der im Şengal lebenden Bevölkerung ergänzt: Eine eigene ezidische Miliz mit Frauen- und Männereinheiten wird gebildet, die Gleichberechtigung von Mann und Frau wird thematisiert, das Recht auf Bildung und der Zugang zu einer Gesundheitsversorgung wird ernst genommen. Hier wird eine basisorientierte demokratische Gesellschaft aufgebaut, was für die Region des Mittleren Ostens eigentlich etwas Sensationelles und ungemein Hoffnungsvolles darstellt!
In Deutschland, in der Schweiz und in vielen anderen europäischen Ländern leben viele zur Flucht gezwungene Ezid*innen, welche durch diese Theaterarbeit eine Stimme erhalten. Das in unserer Öffentlichkeit dominierende Bild der ezidischen Frau als Kriegsbeute zementiert ein weiteres Mal die Haltung, dass die vom Krieg betroffenen Menschen hilflose Geschöpfe sind. „Shengal – Die Kraft der Frauen“ nimmt hier eine andere Haltung ein und erzählt von der Möglichkeit des Handelns. In diesem Sinne hat die Darstellung der Selbstermächtigung der Frauen und des gesamtgesellschaftlichen Wandels im Şengal eine Bedeutung, die weit über diese Region hinausgeht.
Die Zusammenarbeit mit den ezidischen Menschen vor Ort und in der Diaspora war der Regisseurin Anina Jendreyko von Anfang an enorm wichtig. Während der Texterarbeitung stand sie im intensiven Austausch mit dem eezidischen Frauendachverband und einzelnen Ezidinnen, die als Geflüchtete in Deutschland und in der Schweiz leben. Für sie alle war es das erste Mal, dass sie mit ihrer eigenen Geschichte in einen künstlerischen Prozess eingebunden waren. Drei Stränge sind in der Inszenierung ineinander geflochten worden: Die Live-Musik kurdisch-ezidischer Musikerinnen und Musiker, die im Şengal gedrehten Video- und Tonbandaufnahmen sowie Text und Spiel der Schauspieler*innen. Neben der Figur Feride, die von einer ezidischen Schauspielerin gespielt wird, befinden sich zwei weitere Schauspielerinnen und ein Schauspieler auf der Bühne. Fast alle auf der Bühne haben einen biographischen Bezug: sie kommen aus kurdischen Gebieten, ihre Eltern und Großeltern wurden zum Islam zwangskonvertiert, sie sind Gastarbeiterkinder oder politisch Geflüchtete, weil sie wegen ihrer künstlerischen Tätigkeit verfolgt wurden.
Im Umgang mit dem bewegten Bild möchte Jendreyko einen anderen dokumentarischen Blick auf die Ereignisse im Nordirak öffnen, als es die Massenmedien tun. Es sollte mit den bewegten Bildern eine persönliche Erfahrung und Begegnung mit Menschen vor Ort möglich gemacht werden. Dabei werden keine stereotypen Kriegsbilder reproduziert. Bilder der Zerstörung sind zwar eine Realität, aber bei Weitem nicht die einzige. Über die Videos soll die Begegnung mit Menschen ermöglicht werden, die uns von ihrer Geschichte und ihrem Handeln erzählen. Dabei soll es vor allem ein weiblicher Blick auf die Geschehnisse sein.
Aus der reflektierten Auseinandersetzung mit den ersten Reiseerfahrungen ist es gut verständlich, dass die Regisseurin mit ihrer Crew nochmals in den Şengal gereist ist, um von den alltäglichen Mühen im Aufbau einer neuen Gesellschaft zu erzählen. Die Musik spielt dabei eine zentrale Rolle. Im Stück werden verschiedene Passagen des Dengbêj-Gesangs von Sosin Elenya und Silêman Çarnewa gesungen. Beide sind in den kurdischen Gebieten der Türkei aufgewachsen und haben ezidische Wurzeln. Einige Songtexte sind speziell für die Inszenierung geschrieben worden und werden in alten Melodieabfolgen gesungen, andere sind Originale aus der ezidischen Musiktradition. Zwei aus dem Şengal stammende Gedichte von Frauen sind für das Stück neu vertont worden.
Es ist beeindruckend, mit welchem Aufwand hier eine sensible und gleichberechtigte Auseinandersetzung mit den im Şengal lebenden Menschen entwickelt worden ist. Sie sollen an dem ausgelösten Prozess teilhaben und entsprechend werden die gemachten Erfahrungen auch wieder an sie zurückgetragen. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes gelebter Multikulturalismus im Zeitalter der Globalisierung! Die Produktion stößt auf viel Aufmerksamkeit bei anderen Theatern. Es gab vor Corona Interessensbekundungen aus Dresden, München, Hannover, Stuttgart und Berlin und dem Theater am Neumarkt in Zürich. Wie weit diese eingelöst werden können, ist nun unklar. Wegen langer Wartelisten ist eine Wiederaufnahme in Basel im Mai 2021 geplant. Weitere Aufführungen in der Schweiz und anderen Ländern wären wünschenswert.
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