Kinder in Rojava: Ein neues Zuhause
von Anita Starosta / medico international, 8.Sept. 2020.
In den von medico unterstützten Heimen in Kobane und Remilan wird zwischen Kriegsgefahr und Pandemie ein Alltag für Kinder ermöglicht.
Vor knapp einem Jahr entschied medico international nach einer Anfrage aus Rojava, zwei Kinderheime vor Ort zu unterstützen. Der Bau des Kinderheimes in Kobanê mit dem Namen „Ailans Rainbow“ wurde durch die breite Unterstützung von internationalen Solidaritätsinitiativen gebaut und im August 2018 eröffnet. Heute ist „Ailans Rainbow“ auch ein Ort zur Ausbildung von pädagogischen Fachkräften und beherbergt eine Bibliothek. Das Kinderheim in Remilan wird von der Selbstverwaltung betrieben und ist ein besonders sensibler Ort: Hier finden auch Kinder jesidischer Frauen, die von IS-Kämpfern in Gefangenschaft gehalten und vergewaltigt wurden, ein neues zu Hause.
Blicken wir auf dieses Jahr zurück, liegen einige dramatische Ereignisse hinter den Mitarbeiterinnen und den Kindern.
Evakuierung des Kinderheimes in Kobanê
Am 9. Oktober 2019 begann nach der Besetzung von Afrin der zweite Einmarsch der Türkei und ihrer islamistischen Milizen in den kurdischen Gebieten Nordsyriens. Mit Beginn der sogenannten „Operation Friedensquelle“ wurden über Nacht hunderttausende Menschen aus dem Grenzgebiet vertrieben. Nach schweren und willkürlichen Luft- und Artillerieangriffen auf Wohngebiete und dem Einsatz von islamistischen Gruppen wurde das Kinderheim in Kobanê vorsorglich evakuiert. Die Kinder wurden in eine sichere Unterkunft im Landesinneren gebracht und dort über mehrere Wochen versorgt.
medico konnte die Evakuierung durch den Kauf der nötigsten Alltagsgegenstände (Matratzen, Decken, etc…) sowie Spielzeug unterstützen. Auch wenn die Besetzung kurdischer Gebiete in Nordsyrien anhält, konnten die Kinder mittlerweile nach Kobanê zurückkehren. Durch die fortdauernden Angriffe auf die Autobahn M4 müssen allerdings stundenlange Umwege gefahren werden, um das Kinderheim zu erreichen. Das erschwert die Unterstützung und Versorgung des Kinderheims.
Remilan war auf das Schlimmste vorbereitet
Auch in Remilan waren die Leiterin und Mitarbeiterinnen bereits auf eine mögliche Evakuierung vorbereitet, als der türkische Angriff im Oktober 2019 begann. Eine Notunterkunft im Landesinneren war bereits angemietet, berichtete die Leiterin medico bei einem Besuch im Februar dieses Jahres. Bis heute wird diese Unterkunft gehalten, zu groß ist die Angst vor einem erneuten Krieg der Türkei, der dem Frieden in Nordsyrien schnell ein Ende bereiten kann, wie Kinder und Mitarbeiterinnen leidvoll erfahren mussten.
Das Kinderheim in Remilan hat in den vergangenen Monaten eine wichtige Rolle bei der Rückkehr der vom islamischen Staat versklavten Jesidinnen gespielt. Auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung der Islamische Staat als besiegt gilt, werden weiterhin Jesidinnen von kurdischen Einheiten aus ihrer Gefangenschaft befreit – bis heute gelten über 2000 Jesidinnen als vermisst.
Können die Kinder von vergewaltigten Jesidinnen in die Dörfer ihrer Mütter zurückkehren?
Die jesidische Gemeinde im irakischen Shengal-Gebirge erlaubt aus verschiedenen Gründen nicht, dass Mütter ihre durch Missbrauch entstandenen Kinder bei einer Rückkehr in die Gemeinde behalten. Das Kinderheim in Remilan ist der einzige Ort in Rojava, wo die Kinder aufgenommen werden. Sowohl die Mütter und die Kinder als auch die Mitarbeiterinnen des Kinderheims haben die Hoffnung, dass ein Dialog mit den religiösen Führern der jesidischen Gemeinde aufrechterhalten werden kann und eine Rückkehr bzw. Vereinigung der Kinder mit ihren Müttern in den nächsten Jahren möglich wird.
Bis dahin gilt es, den Kindern mit großem pädagogischem Feingefühl in ein neues Leben zu verhelfen und die Erfahrungen von Gewalt, Mangelernährung und Misshandlung unter dem Islamischen Staat langsam aufzuarbeiten. Eine Riesenaufgabe für die Mitarbeiterinnen des Heims, die langsam Vertrauensverhältnisse aufbauen und in Remilan versuchen, einen Ort der Geborgenheit und familiären Unterstützung zu bieten.
Corona-Bedrohung in Rojava
Neben dem türkischen Einmarsch und der anhaltenden Besatzung hat die weltweite Covid-19-Pandemie starke Auswirkungen auf die Arbeit in den Kinderheimen. In Rojava wurden schon frühzeitig präventive Maßnahmen eingeleitet und ein Lockdown beschlossen. Für die Kinder in Remilan und Kobane bedeutete dies schwere Einschränkungen in ihrem Alltag: Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, spielen war nur noch in kleinen Gruppen möglich und eine Vielzahl von Hygienemaßnahmen mussten umgesetzt werden. Die Erzieher*innen mussten in Schulungen auf die neue Situation vorbereitet werden. Mit medico-Spendengeldern wurden Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung gekauft.
Das Kinderheim in Remilan ist mit über 60 Kindern völlig überfüllt. Ein größeres Gebäude oder Neubau des Heims ist momentan nicht in Sicht. Deshalb wurde von den Erzieher*innen ein Notfallplan erstellt, wie die Kinder auch während der Ausgangssperre mit den örtlichen Gegebenheiten so gut es geht beschäftigt werden können. Durch den Kauf eines weiteren Wohncontainers, der als Spielzimmer eingesetzt wird, konnten die Räumlichkeiten erweitert werden. In den Zeiten des Lockdowns eine nicht zu unterschätzende Maßnahme.
Neben den pädagogischen Maßnahmen sowie dem Ausbau und der Instandhaltung der Räumlichkeiten wurde auch die medizinische Versorgung der Kinder verbessert. Der Kurdische Rote Halbmond hat das Kinderheim in Remilan wiederholt mit einer mobilen Klinik besucht und den Gesundheitszustand der Kinder untersucht.
Mittlerweile gibt es die ersten bestätigten Covid-19-Fälle in Nordsyrien. Das syrische Regime hat zu Beginn der Pandemie bewusst positive Labortests zurückgehalten und damit eine Ausbreitung des Virus in Kauf genommen. Die lokale Prävention und Vorbereitung auf einen größeren Ausbruch läuft mit begrenzten Mitteln auf Hochtouren.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen