Durst als Kriegswaffe
Seit über zwei Wochen erhalten Hundertausende Menschen im kurdisch geprägten Nordostsyrien kein oder nur kaum fließend Wasser mehr vom türkisch kontrollierten Pumpwerk Allouk – und das bei hohen Temperaturen, mitten in der Pandemie. Niemand weiß, wie es weitergeht. Die EU muss jetzt Druck auf die Türkei aufbauen.
In der Region Hassakeh unter kurdischer Selbstverwaltung kam seit dem 13. August fast überall kein Wasser mehr aus den Leitungen. Erst heute gibt es wieder Wasser, aber längst nicht überall. Die Wasserversorgung der Region war nach UN-Angaben seit Anfang des Jahres bereits mindestens 13 mal unterbrochen. Und selbst wenn Wasser aus den Leitungen kommt, dann an vielen Orten einfach zu wenig.
Den Menschen in Nordostsyrien (Rojava) bleibt dann nichts anderes übrig als von LKWs angeliefertes Wasser zu kaufen. Das ist oft kaum trinkbar, aber sehr teuer. Das verschlechtert die hygienischen Bedingungen und gefährdet die Gesundheit der Bevölkerung – auch angesichts der Corona-Pandemie. In der Region gibt es unterschiedlichen Quellen zufolge aktuell 556 positiv getestete Personen, 35 Menschen starben. Berichten zufolge mehren sich aktuell auch Durchfallerkrankungen aufgrund verunreinigten Trinkwassers.
Für alle Menschen in der Region ist die extreme Wasserknappheit beklemmend, für ärmere Familien ist sie lebensbedrohlich. Die Pumpstation Allouk nahe Ras el Ain (kurd. Serê Kaniyê) versorgt eigentlich große Teile des Gebiets unter kurdischer Selbstverwaltung mit Wasser. Auch große Flüchtlingslager werden von hier aus mit Wasser versorgt, darunter das Al-Hol-Camp, in dem zahlreiche ISIS-Anhänger*innen verwahrt werden. Schon unter normalen Umständen herrschen hier wegen mangelnder internationaler Hilfe katastrophale Bedingungen. Mit dem Ausbleiben des Wassers verschlechtert sich die Hygiene- und Gesundheitssituation der Bewohner*innen noch einmal deutlich.
Die Türkei ist verantwortlich – ungeachtet ihres Motivs
Im Oktober 2019 nahm die türkische Armee zusammen mit türkisch finanzierten syrischen Milizen einen Streifen Syriens entlang der türkischen Grenze ein. Die Türkei nennt den Streifen eine „Sicherheitszone“ gegen Terroristen. Seither steht auch das Allouk-Wasserwerk und damit die Wasserversorgung der Region unter türkischer Kontrolle. Damit hat die Türkei nach internationalem Recht die Verantwortung, die Wasserversorgung für die Zivilbevölkerung der Region zu gewährleisten.
Die türkische Armee führt die Unterbrechungen der Wasserversorgung regelmäßig auf technische Probleme zurück oder auf mangelnde Stromversorgung für die Pumpen. Den Strom müsste aus türkischer Sicht die kurdische Selbstverwaltung liefern, die das Elektrizitätswerk am Tishrin-Damm kontrolliert. Dem widerspricht allerdings Human Rights Watch (HRW): Es gebe durchaus Strom für das Wasserwerk Allouk. Nach Einschätzung von HRW setzt die Türkei die Unterbrechung der Wasserversorgung als Kriegswaffe ein.
Viele Menschen in der Region gehen davon aus, dass es der Türkei nicht nur darum geht, Strom für die von ihr gehaltenen Gebiete zu erpressen. Sie vermuten, dass es vielmehr schlicht darum gehe, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und die kurdisch geprägte Selbstverwaltung unter Druck zu setzen. Angesichts der Tatsache, dass die Türkei und ihre Proxy-Milizen in Syrien bei ihren Offensiven im Nordosten schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben und auch weiterhin begehen, ist der Verdacht überaus begründet.
89 zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter auch Partnerinitiativen von Adopt a Revolution, haben daher einen Aufruf gestartet. Sie fordern die UN, die EU und die USA auf, Druck auf die Türkei auszuüben, damit diese endlich verlässlich Wasser liefert. Die Organisationen verlangen darüber hinaus, dass das Allouk-Wasserwerk unter unabhängige internationale Aufsicht gestellt wird, damit die Zivilbevölkerung ungeachtet der Kriegssituation zuverlässig Wasser erhält.
Angriffe der Türkei gefallen dem Assad-Regime
Vorhaltungen des Assad-Regimes, dass die unterbrochene Wasserversorgung Menschenrechte verletze, sind dagegen ein schlechter Scherz. Denn angesichts der vom Assad-Regime über Jahre angewandten, für viele Zivilist*innen tödlichen Belagerungen, bei denen die Wasserversorgung für Millionen Menschen abgeschnitten wurde – wie etwa im Fall von Ost-Ghouta – ist diese Kritik mehr als wohlfeil.
Dabei ist diese Argumentation des Assad-Regimes bezeichnend: Wenn die kurdisch geprägte Selbstverwaltung bzw. die Zivilbevölkerung in der Region aufgrund von Aktionen der Türkei unter Druck gerät, hat das Assad-Regime leichteres Spiel, die Autonomie der Selbstverwaltung anzugreifen. Letztlich strebt das Regime an, auch den kurdischen Nordosten Syriens wieder unter eigene Kontrolle zu bekommen – selbst wenn das noch lange dauern dürfte. Für viele Menschen der Region ist die Aussicht, dass Assads Geheimdienste in der Region wieder aktiv werden könnten, nicht weniger bedrohlich als die vom Norden her drohende Türkei.
In der Corona-Pandemie leisten zivile Aktivist*innen im Nordosten wichtige Arbeit, um eine Ausbreitung des Virus’ in den Flüchtlingslagern zu vermeiden: Sie klären auf, verteilen Masken, Desinfektionsmittel und Seife, damit wenigstens grundlegende Hygiene möglich ist.
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