Wie eine Araberin ezidische Frauen vor dem IS rettete
Riyim hat ezidischen Frauen im nordsyrischen Tabqa zur Flucht vor
dem IS geholfen. „Wir befanden uns im Zwiespalt zwischen unserer Angst
und unserer Menschlichkeit“, erzählt die 29-jährige Araberin aus der
Zeit unter islamistischer Herrschaft.
Als der „Islamische Staat“ auf der Bildoberfläche auftauchte, Mosul besetzte und seine Grausamkeiten über Videos verbreitete, entstand große Angst. Viele Orte wurden vor allem wegen dieser bewusst erzeugten Angst erobert. Die Armeen von Staaten wie Syrien und Irak zogen sich aus weiten Gebieten kampflos zurück.
Die YPG, YPJ und HPG hingegen eilten ohne jede Unterstützung den Eziden in Şengal zur Hilfe. In Kobanê wurde dem IS der erste Schlag versetzt. Durch diesen Kampf wurden YPG und YPJ zum Sinnbild für Hoffnung und Mut. Der Widerstand der YPJ wirkte sich besonders stark auf arabische Frauen aus. So wie vorher die Angst verbreitete sich jetzt der Mut.
Viele Araberinnen unterstützten in den vom IS eroberten Gebieten die YPJ und übernahmen eine aktive Rolle bei der Befreiung von verschleppten und versklavten Ezidinnen. Viele schlossen sich auch den YPJ an.
Riyim Nefe Hubeyt ist eine arabische Frau, die vom IS nach Tabqa verschleppten Ezidinnen die Hand reichte und mit den YPJ zu ihrer Befreiung beitrug. Sie hat das Grauen des IS selbst erlebt und rettete innerhalb eines Jahres acht ezidische Frauen aus der Sklaverei, obwohl sie dabei große Angst hatte. Den Mut dazu haben ihr die YPJ gegeben, sagt Riyim. Nach der Befreiung der Stadt übernahm sie Verantwortung im Frauenrat von Tabqa und arbeitet heute im Frauenrat der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien.
Zwei heimliche Jahre an der Universität
Riyim Nefe Hubeyt ist 29 Jahre alt und stammt aus Serêkaniyê (Ras al-Ain). Ihre Familie zog nach Tabqa, als sie noch ein Kind war. Dort war sie auch, als 2011 der Krieg in Syrien begann. 2013 schrieb sie sich für ein Lehramtsstudium an der Universität von Hesekê ein. Ein normales Studium war für eine Frau aus Tabqa jedoch nicht möglich. Zuerst beherrschten Ahrar al-Sham und al-Nusra, später der IS die Stadt. Aus diesem Grund fuhr sie heimlich zu den Prüfungen nach Hesekê. Im dritten Jahr war die Fahrt inzwischen so gefährlich, dass sie ihr Studium abbrechen musste.
Riyim erzählt von dieser Zeit: „Ich wollte so gerne studieren. Von vier Geschwistern war ich die einzige, die gesund war. Meine drei Geschwister haben geistige Beeinträchtigungen. Meine Familie willigte trotz der Unterdrückung durch die FSA [Freie Syrische Armee] und al-Nusra ein, dass ich zur Universität gehen kann. Sie wollten mich nicht kränken. Und so versuchte ich zwei Jahre lang, mein Studium aller Schwierigkeiten zum Trotz fortzusetzen. Sowohl in der Zeit der FSA als auch in der IS-Zeit wurden Frauen sehr stark unterdrückt. Beide zwangen Frauen dazu, sich mit schwarzen Gewändern zu verhüllen. Die einzige Aufgabe von Frauen war die der Ehefrau. Auf dem Weg zur Universität verhüllte ich mich und mischte mich unter die anderen Zivilisten. Wenn ich Til Temir erreicht hatte, streifte ich die schwarze Verhüllung ab. Dort war das Gebiet von YPG und YPJ. Ich fühlte mich sicher und frei. Wenn meine Familie nicht in Tabqa gewesen wäre, wäre ich nicht dorthin zurückgekehrt. 2016 musste ich das Studium abbrechen. Die Unterdrückung war immer heftiger geworden und der IS hatte seine Straßenkontrollen verschärft.“
Erste Bekanntschaft mit ezidischen Frauen
Nachdem sie ihr Studium abgebrochen hatte, begann Riyim gemeinsam mit ihrem Vater in einem privaten Internethaus zu arbeiten, weil es der Familie finanziell nicht gut ging. In dieser Zeit lernte sie erstmalig ezidische Frauen kennen. Die Tragödie, die diese Frauen erlebt hatten, hinterließ tiefen Eindruck bei ihr.
Als Tabqa 2016 von den Kampfjets der internationalen Koalition bombardiert wurde, begegnete Riyim mit ihrer Mutter auf der Straße einer Frau mit einem Kind. Riyim verdächtigte die Frau zunächst als ausländische IS-Angehörige und wollte sich ihr nicht nähern. Ihrer Mutter tat die Frau jedoch leid und sie sprach sie an. So erfuhren sie, dass es sich nicht um eine IS-Frau handelte, sondern vielmehr um eine Ezidin, die zum Opfer des IS geworden war.
Riyim berichtet von diesem Moment: „Die Frau war mit ihrer achtjährigen Tochter vor dem IS geflohen. Sie war voller Angst. Die Frau hieß Zorma, ihre Tochter Zuhur. Sie erzählte uns, was ihr widerfahren war. Es war kaum auszuhalten. Sie war 2014 mit ihrer Tochter aus Şengal verschleppt worden. Danach wurde sie an mehrere Männer verkauft. Zuletzt wollte der IS auch ihre Tochter verkaufen, deshalb war sie geflohen.“
Riyims Familie versteckte Zorma und ihre Tochter Zuhur bei sich in der Wohnung. Die Sorge, erwischt zu werden, wurde immer größer. Von dem damaligen Gefühlschaos erzählt Riyim: „Ich hatte große Angst. Wenn wir aufgeflogen wären, wäre es sowohl mit ihnen als auch mit uns vorbei gewesen. Meine Mutter war Schneiderin und ihre Kundinnen kamen zu uns nach Hause. Ich machte mir große Sorgen, dass jemand Zorma sieht und uns denunziert.
Wir hatten das Grauen des IS ja bereits zwei Jahre miterlebt. Der IS köpfte Menschen auf dem Platz und ließ uns zugucken. Ich habe gesehen, wie ein Jugendlicher vom IS von einem Gebäude gestoßen wurde. Wir befanden uns im Zwiespalt zwischen unserer Angst und unserer Menschlichkeit. Anstelle von Zorma und den anderen ezidischen Frauen hätten ja auch wir sein können. So dachten wir und deshalb brachten wir es trotz unserer Angst nicht fertig, sie wegzuschicken.“
Wie Zorma und ihre Tochter gerettet wurden
Um Zorma und ihre Tochter zu retten, stellte Riyim schließlich Kontakt zu den YPJ her und gewann daraus neue Kraft. Sie habe in dieser Zeit erkannt, dass auch sie selbst stark und mutig sein kann, sagt Riyim: „Der Druck des IS wurde immer größer. An den Wänden wurden Fahndungsfotos von Zorma und ihrer Tochter aufgehängt. Zorma hatte eine Telefonnummer von Verwandten im Irak. Wir riefen dort an, erreichten aber niemanden. Wir fühlten uns hilflos, aber dann fiel uns unsere eigene Verwandtschaft im Irak ein. Wir riefen sie an und sie erreichten schließlich Zormas Verwandten.
Kurze Zeit später riefen uns YPJ-Frauen aus Kobanê an und sagten, dass eine Araberin aus Raqqa kommen würde, um Zorma und ihre Tochter abzuholen. Sie kam am nächsten Tag und nahm Zorma mit. Zorma und ihre Tochter erreichten freies Gebiet und wurden von dort aus zu ihren Verwandten weitergeschickt. Als wir erfuhren, dass sie heil angekommen sind, haben meine Mutter und ich uns sehr gefreut. Der IS bestand ja hauptsächlich aus Arabern und angesichts dessen, was er selbst uns als arabischen Muslima antat, konnten wir ahnen, was unseren ezidischen Schwestern angetan wurde.“
Zusammen mit den YPJ sieben weitere Ezidinnen gerettet
Nach der Rettung von Zorma und ihrer Tochter entwickelte sich ein Dialog zwischen Riyim und Frauen von den YPJ. Riyim begann aktiv daran mitzuwirken, weitere Ezidinnen zu befreien. „Die Freundinnen riefen mich dauernd an. Wenn ich mit ihnen redete, ging es mir gleich viel besser. Es war, als ob ich mich aus dem vom IS geschaffenen Käfig befreie und in eine andere Welt eintrete. Ich wurde zu einer ganz anderen Riyim und ließ alles andere liegen, um mich ganz auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Wären wir erwischt worden, hätten wir alle sterben können, aber wenn ich ihnen nicht geholfen hätte, hätte mein Gewissen mich nicht in Ruhe gelassen.
Die Freundinnen munterten mich am Telefon immer auf. ‚Es dauert nicht mehr lange, ihr müsst durchhalten, wir werden Tabqa und Raqqa befreien. In Tabqa werden wieder die Stimmen und das Lachen von Frauen zu hören sein‘, sagten sie. Das gab mir Kraft und so konnte ich den Freundinnen ein Jahr lang helfen. Ich rettete noch sieben weitere ezidische Frauen. Die Freundinnen nannten mir den Ort und ich ging heimlich hin und holte sie ab. Dann kam wieder die Frau aus Raqqa und brachte sie zu den Freundinnen.“
Neugeburt mit der Befreiung von Tabqa
Am 10. Mai 2017 wurde Tabqa von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) befreit und Riyim wartete in der Stadt auf die YPJ-Frauen. Durch die Befreiung vom IS und den Anblick der Kämpferinnen in der Stadt kam wieder Hoffnung auf die Zukunft auf, sagt Riyim: „Wir haben so viel Hässliches und Grausames gesehen in der Zeit des IS und der FSA. Seitdem die QSD auch Raqqa befreit haben, atmen wir auf. Ich sage das aus tiefstem Herzen: Das wichtigste Merkmal der QSD und der Autonomieverwaltung ist der Wert, der Frauen beigemessen wird, und dass sie die Rechte und die Freiheit von Frauen verteidigen. Diese Wertschätzung von Frauen gilt in jeder Hinsicht. Frauen sind in der Politik, im militärischen Bereich und überall vertreten. Das hat mich sehr beeindruckt und deshalb bin ich ihnen von Herzen verbunden.
Weder unter dem Regime noch nach dem Beginn des Bürgerkrieges habe ich erlebt, dass Frauen wertgeschätzt werden. Unter der FSA und dem IS wurden die Bedingungen für Frauen noch schlimmer und es wurde unerträglich. Deshalb ist es für mich als arabische Frau sehr wertvoll, in den Strukturen der Autonomieverwaltung zu leben. Dank ihr fühlen wir uns als Frauen wertvoll und lernen unsere eigene Kraft immer mehr kennen.“
Die Zukunft selbst erschaffen
Direkt nach der Befreiung von Raqqa wurde Riyim in der gesellschaftlichen Arbeit aktiv und im zuerst im Frauenrat von Tabqa tätig. Sie unterrichtete andere Frauen aus Tabqa an den selbstorganisierten Akademien und ist heute noch im Frauenrat der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien.
„Viele arabische Frauen arbeiten jetzt in den Strukturen der Autonomieverwaltung. Viele haben sich auch den YPJ angeschlossen. Wir blicken jetzt hoffnungsvoller in die Zukunft. Natürlich müssen immer noch große Entwicklungen hinsichtlich der Situation von Frauen und dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft stattfinden. Aber wir sind uns bewusst geworden, dass Frauen viel mehr sind, als uns erzählt worden ist. Wir erkennen, was wir aus eigener Kraft schaffen können. Wir arbeiten daran, unsere Zukunft selbst zu erschaffen. Aus diesem Grund sind wir voller Hoffnung“, sagt Riyim Nefe Hubeyt.
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