Syrien: Mitschuldig

von Till Küster (medico international ), 18. Febr. 2020.

"Aleppo gehört uns". Ein russischer Soldat sprüht an eine Hauswand. (Foto: @ruslantrad, Twitter)
In Idlib verhungern und erfrieren Menschen. Das gelähmte Europa macht sich mitschuldig am syrischen Schrecken. Denn es gäbe Handlungsoptionen. Von Till Küster
Es begann mit einem Graffiti. Im März 2011 sprühten Jugendliche einen Witz über den gelernten Augenarzt Baschar al-Assad an eine Mauer in der Stadt Daraa in Syrien: „Du bist dran, Doktor“. Sie wurden verhaftet und von der Polizei misshandelt. Daraufhin fanden erste Demonstrationen in Daraa statt, die sich schnell auf das ganze Land ausbreiteten – nachdem die syrische Armee begann, die Demos niederzuschießen. Was folgte, war leider nicht nur die Revolution in Syrien, sondern auch die Katastrophe ihrer brutalen Niederschlagung im syrischen Bürgerkrieg, der nun sein vorläufiges Ende in Idlib nehmen wird.

Der Schrecken wird tatenlos hingenommen

Drei Millionen Menschen sitzen heute zwischen den Fronten fest, Flüchtlingslager werden beschossen, Menschen verhungern und erfrieren aufgrund der Minusgrade direkt an der Grenze zur Türkei. Türkisches Militär unterstützt dschihadistische Milizen bei ihrem Kampf mit der syrischen Armee, mit der schiitischen Hisbollah und afghanischen Milizen. Idlib steht für den Schrecken, der sich lange ankündigte und doch von einem Großteil der Internationalen Gemeinschaft tatenlos hingenommen wurde. So wie die lange Liste der Gräuel in den Jahren zuvor. Syrien passiert einfach, seit nun neun Jahren.
„Assad ist nur ein Bild“, sagte uns ein syrischer Menschenrechtsaktivist im vergangenen Jahr. Es gehe nicht um die Person Assad, sondern um ein System, das Hunderttausende umgebracht und inhaftiert hat. Russland, Iran und andere Mächte haben früh damit begonnen, das Regime in Damaskus um jeden Preis an der Macht zu halten. „Der Westen“ hingegen blieb nicht nur taten-, sondern hilflos. „Rote Linien“ wurden gezogen, alle wurden überschritten. Einigkeit bestand allein im Kampf gegen den IS, bis heute sind amerikanische Truppen im Osten Syriens stationiert.

Fortgesetztes Entsetzen

Über Jahre legten die syrische und russische Luftwaffe mit Fassbomben und Raketen ganze Städte in Schutt und Asche. Eine Flugverbotszone wäre das Mindeste, was die Vereinten Nationen der syrischen Zivilbevölkerung geschuldet hätten. Es geschah nichts, der UN-Sicherheitsrat blieb blockiert in den essentiellen Fragen zum Kampfgeschehen im syrischen Krieg.
Heute beschränkt sich der diplomatische Einsatz der Europäischen Union auf das fortgesetzte Entsetzen über die Lage in Idlib und die dringende Bitte, doch einen Waffenstillstand durchzusetzen, der niemals kommen wird. Gleichzeitig sorgt eben diese EU dafür, dass die Türkei ihre Grenzen für Flüchtende geschlossen hält – anstatt Aufnahmegarantien in Europa zu geben, um die verzweifelten Menschen aus Idlib herauszuholen. Das Ergebnis ist desaströs: Wer Abschottung betreibt, gleichzeitig aber keine politische Intervention und Lösung anbietet, um das Töten zu stoppen, der macht sich mitschuldig.

„Aleppo gehört uns“

So gibt es nun ein zweites Graffiti, das heute genauso symbolisch für das vorläufige Ende der Hoffnung steht, wie das Graffiti in Daraa für ihren Beginn. Im Zuge des Vormarsches auf Idlib fielen nun auch die letzten Außenbezirke der einstigen Millionenstadt Aleppo zurück an das syrische Regime. Zumindest ist das die offizielle Verlautbarung. In den kommenden Tagen soll der internationale Flughafen von Aleppo nach sieben Jahren seinen Betrieb wieder aufnehmen – mit Direktverbindungen in die Hauptstadt Damaskus und nach Kairo. Die Botschaft ist eindeutig: Geschäfte werden wieder gemacht, es geht voran. Gleichzeitig sterben 20 Kilometer weiter diejenigen, die weiter vor Machthaber Assad, seinem Regime und dessen Unterstützern auf der Flucht sind. „Aleppo gehört uns“. Gesprüht haben dieses Mal nicht syrische Jugendliche, sondern russische Elite-Soldaten: Wie passend. It all ends here, vorerst.
Was tun? „The only option is a ceasefire“, sagte der Direktor des UN-Hilfswerkes OCHA gestern in New York. Die andere Option ist die Grenzöffnung und die Aufnahme derjenigen, die seit neun Jahren Opfer dieses Krieges sind.

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