Rojava

Ende eines kurdischen Neuanfangs

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In Hasakeh, der nächsten Stadt außerhalb des Kampfgebiets, kommen die Vertriebenen des türkischen Angriffs notdürftig in Schulen unter. (Foto: Fadel Senna / AFP)
Die Invasion der Türkei in Rojava hat die vorerst letzte Chance auf eine demokratische Entwicklung in Teilen Syriens brutal zerschlagen.
Von Anita Starosta
Eigentlich hätte hier ein anderer Text beginnen sollen: ein Text über die Entwicklungen, die die medico-Partnerorganisationen und die Selbstverwaltung in Nordsyrien allen Widrigkeiten zum Trotz im Laufe der letzten Jahre auf den Weg gebracht haben. So hätte der Text von den Fortschritten beim Aufbau einer Basisgesundheitsversorgung für alle Menschen berichtet, die in dieser multiethnischen Region ihr Zuhause haben oder Zuflucht fanden. Womöglich hätte der Text dies am Beispiel des Krankenhauses in Ra‘s al-‘Ain (kurdisch: Serê Kaniyê) verdeutlichet. Das in Gefechten mit der al Nusra Front ehedem schwer beschädigte Gebäude ist mit viel Mühe renoviert und ausgestattet worden. Noch vor Kurzem wurden Besucher*innen stolz die neuen OP-Räume und Krankenzimmer gezeigt. In der Gesundheitsakademie eine Etage darüber lernten junge Studierende das medizinische Handwerk. Man hätte in dem Text auch auf die Waisenhäuser in Derik und Kobane eingehen können, wo Sozialarbeiter*innen mit Kindern arbeiteten, die im Krieg ihre Eltern verloren haben, und zugewandt versucht wurde, trotz allem erlebten Grauen Zuversicht wachsen zu lassen. Sicher wäre der Text auch auf die Anstrengungen der kurdischen Selbstverwaltung und der lokalen Hilfsorganisationen eingegangen, einen Umgang mit den (internationalen) IS-Anhänger* innen zu finden, für die sie in Flüchtlingslagern und Gefängnissen Verantwortung übernehmen mussten, während sich der Rest der Welt eben dieser entzog.
Vieles wäre zu erzählen gewesen von dem Bemühen, ein freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen zu bilden, von dem letzten gültigen Versuch, den Status quo zu überwinden und anstatt ein autoritäres und gewalttätiges Regime zu stützen eine demokratische Alternative aufzubauen, in der alle ethnischen und religiösen Minderheiten ihren Platz finden.

Komplett neue Vorzeichen

Doch die Realität hat diese Absicht überrollt wie Panzer die Grenze. Mit Beginn der türkischen Militäroffensive am 9. Oktober 2019 ist die politische und humanitäre Katastrophe wahr geworden, die die Menschen in Nordsyrien befürchtet haben und vor der auch medico immer wieder gewarnt hat. Krieg statt Rojava.
Das Krankenhaus in Ra‘s al-‘Ain ist in die Hände von islamistischen Milizen gefallen, viele andere mühsam geschaffene Gesundheitseinrichtungen liegen in den Gebieten, die plötzlich von türkischen Söldnern besetzt sind, oder in dem 30 Kilometer tiefen Streifen, in dem nun russisches, syrisches und türkisches Militär patrouilliert. Die Ärzt*innen, Pfleger*innen und Studierenden aus Ra‘s al-‘Ain und viele andere sind im Kriegsgebiet oder bei der Versorgung von Flüchtlingen im lebensgefährlichen Einsatz. Manche sind unter Raketenbeschuss gestorben oder wurden entführt und ermordet. Das Waisenhaus in Kobane wurde evakuiert. Vorläufig beendet ist die erzieherische Arbeit mit gefangenen IS-Angehörigen. Aktuell geht es nur darum, weitere Ausbrüche zu verhindern. Besonders in den Camps Ain Issa oder al Hol ist die Situation angespannt, aus dem Lager in Ain Issa konnten nach einem türkischen Angriff Hunderte ausländische IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern fliehen.
In dem, was dieser Text jetzt zu erzählen hat, geht es also nicht mehr um Perspektiven. Es geht ums Überleben. Dahin ist die relative Ruhe und Sicherheit in Nordsyrien. Bis heute gab und gibt es keine Waffenruhe, weder während der Verhandlungen zwischen Russland, dem Assad-Regime und der Türkei, noch jetzt, nach der Einigung auf die türkisch-russischen Patrouillen in der Pufferzone entlang der Grenze. Auch heute noch muss zum Beispiel das Krankenhaus in der Stadt Tel Tamer – der zen- trale Ort für die Erstversorgung der Verletzten – immer wieder evakuiert werden, zu nah rücken islamistische Milizen, die unter Führung der Türkei operieren und das Gebiet zwischen Tall Abyad (Girê Sipî) und Ra‘s al-‘Ain (Serê Kaniyê) besetzen. Auch das ist Teil des mit Russland und Assad geschlossenen Abkommens. Und inmitten dieser politischen Katastrophe sind mindestens 300.000 Menschen auf der Flucht und müssen versorgt werden.
Von der Bergung von Kriegsverletzten über die Evakuierung ganzer Landstriche bis zur Verteilung lebenswichtiger Güter an Geflüchtete: Seit dem 9. Oktober sind die Nothelfer*innen der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond im Dauereinsatz. Sie kümmert sich um acht reguläre Flüchtlingscamps in der Region und etliche informelle Ansiedlungen mit über hunderttausend Binnenvertriebenen aus Syrien und über zehntausend internationalen IS-Anhänger*innen samt Kindern. Zwar gewährleisten das UN-Flüchtlingshilfswerk und die Weltgesundheitsorganisation dort eine rudimentäre Basisversorgung, viele internationale Hilfsorganisationen aber haben sich aktuell zurückgezogen – zu groß die Angst vor den Folgen der Präsenz des syrischen Regimes, dem Wiedererstarken des IS und der näher rückenden Front. Auch in dieser Hinsicht werden die Helfer*innen vor Ort alleine gelassen. Die Versorgungslage ist schon jetzt mehr als prekär. Und nun bricht der Winter herein.
In einer ersten Hilfsmaßnahme hat medico mit Spendengeldern den Kurdischen Roten Halbmond beim Kauf von Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten von Geflüchteten unterstützt. Zudem wird der Betrieb der zwei zentralen Krankenhäuser in Tel Tamer und Hasakeh aufrechterhalten. Hierher sind die meisten Kriegsverletzten gebracht worden. Der Kurdische Rote Halbmond verfügt momentan über 54 Rettungswagen, für rund die Hälfte hat medico die laufenden Kosten übernommen, vom Treibstoff bis zur Reparatur. Vorangetrieben wird auch der Ausbau sanitärer Anlagen und des Abwassersystems in 39 Notunterkünften in der Stadt Hasakeh. Zehntausende Flüchtlinge kommen zurzeit in Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen unter. Weil der Platz nicht reicht, werden jetzt Camps ausgebaut und neue errichtet. Aktuell wird das Flüchtlingslager Newroz mit Unterstützung von medico erweitert und ein Camp an der Straße von Tel Tamer nach Hasakeh errichtet – allein dieses soll 30.000 Familien Zuflucht bieten. In einem öffentlichen Appell hat sich der Kurdische Rote Halbmond an internationale NGOs mit der Bitte um Unterstützung für dieses Camp gewandt. Bisher sind sie dort alleine.
Die Beispiele zeigen, wie wichtig die fortlaufende, solidarische Unterstützung der lokalen Helfer*innen ist und wie groß auch der Hilfsbedarf in den nächsten Wochen sein wird. Sie zeigen aber auch, dass eigentlich geplante Projekte wie der Aufbau eines Kinderkrankenhauses in Hasakeh vorläufig ausgesetzt sind. Akute Nothilfe ist, was gerade zählt.
Ob die Geflüchteten jemals wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können, ist mehr als ungewiss. Ein Leben unter türkischer Besatzung, wie zwischen Russland, der syrischen Regierung und der Türkei für einen Teil der umstrittenen Region vereinbart wurde, ist vor allem für einen Großteil der kurdischen Bevölkerung keine Option. Hinzu kommen die Ankündigungen Erdoğans, 1,2 Millionen in der Türkei gestrandete syrische Flüchtlinge in Nordsyrien ansiedeln zu wollen. Durch die Vertreibung und ethnische Säuberung der bis dato vorwiegend kurdischen Gegend schafft die Türkei Fakten. Ziel ist eine demographische Neuordnung der Region. Flüchtlinge gegen ihren Willen in völkerrechtswidrig besetzten Gebieten anzusiedeln, ist eine eklatante Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Hinzu kommt: Mit einer Ansiedlung von Syrer*innen, die in die Türkei geflohen waren, drohen auch viele wieder unter die Kontrolle des Regimes zu geraten, die sich diesem aus guten Gründen durch Flucht entzogen haben.
All diese Entwicklungen klingen auf unheimliche Weise vertraut. Aspekt für Aspekt wiederholt sich, was schon Anfang 2018 in der weiter westlich gelegenen Region Afrin geschah: eine völkerrechtswidrige, gegen die kurdische Selbstverwaltung gerichtete Invasion der Türkei auf syrisches Territorium; eine Flüchtlingswelle mit desaströsen humanitären Folgen; systematische Vertreibung und die Planung einer ethnischen Umsiedlungspolitik. In der Region siegt die Macht der Stärkeren. Alle Mechanismen einer internationalen Politik, die auf Völkerrecht beruht, versagen. Und ob Rüstungsverbote oder die Kündigung von Hermesbürgschaften – wirksame Maßnahmen gegen die türkische Aggression bleiben aus.

Antikurdische Kontinuität

Schon bei der Weigerung, die nordsyrische Selbstverwaltung zumindest von den deutschen IS-Kämpfern und -Angehörigen zu entlasten, scheute die Bundesregierung eine offizielle Kooperation mit den Kurd*innen. Ähnlich ist es bei der humanitären Hilfe. Obwohl der akute Bedarf vor Ort riesig ist und es mit dem Kurdischen Roten Halbmond einen ernstzunehmenden lokalen Akteur gibt, der in allen Bereichen der Nothilfe aktiv ist, schließt die Bundesregierung die direkte Zusammenarbeit ebenso aus wie eine über medico vermittelte Unterstützung. Stattdessen werden Hilfsgelder über große internationale NGOs eingesetzt. Diese leisten zwar wichtige Basisarbeit, aber sind oft nicht dort, wo Hilfe am dringendsten benötigt wird – etwa bei Notfalleinsätzen in der Kriegsregion oder der Begleitung von Flüchtlingskonvois. Anstatt einen Schritt auf die kurdische Selbstverwaltung zuzugehen und zumindest ihren humanitären Einsatz anzuer-kennen, verfolgt die Bundesregierung die antikurdische Linie der Türkei weiter.
Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff und der von außen bestimmten politischen Neuordnung stehen der Demokratisierungsprozess der letzten sechs Jahre und der Fortbestand des einzigen multiethnischen und multireligiösen Projekts in der Region auf dem Spiel. Was auch immer dies für die Menschen vor Ort bedeutet und welche Bitterkeit es erzeugt: Viele machen einfach weiter, weil der Augenblick es verlangt. In dem Sinne mag dieser Text anderes erzählen als geplant. Eines aber hat sich nicht verändert: Inmitten großer Not halten die medico-Partner*innen und unzählige andere Menschen in Nordsyrien an der Möglichkeit einer friedlichen und demokratischen Zukunft fest. Rojava statt Krieg – die Solidarität lebt.
Was bleibt, ist die solidarische Hilfe. Spendengelder fließen derzeit vor allem in die akute Nothilfe, aber auch andere zum Teil längerfristige medico-Projekte in Rojava gehen unter den Bedingungen der Vertreibung weiter. Weitere Unterstützung ist dringend erforderlich.
Spendenstichwort: Rojava

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

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