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Als Physiotherapeut in Rojava


Ein internationalistischer Physiotherapeut beschreibt seine Arbeit mit Kriegsverletzten in Rojava und den großen Bedarf nach Fachpersonal und Hilfsmitteln im gesundheitlichen Bereich. 


Mit Beginn des völkerrechtswidrigen Invasionskrieges der Türkei reiste ich als Internationalist mit physiotherapeutischem Hintergrund nach Nordostsyrien. Dort arbeite ich zurzeit als Physiotherapeut in einem „Haus der Verletzten“ in Rojava. Insgesamt gibt es davon rund 2500 in Nordostsyrien. Die Anzahl der Verletzten ist nur schwer abzuschätzen, der Bedarf an physiotherapeutischer Betreuung ist immens und die Arbeitsbedingungen sowie die medizinische Versorgung mit Hilfsmitteln sind schwierig.
Die „Mala Gazî“, die „Häuser der Verletzten“, sind Einrichtungen der autonomen und selbstverwalteten Strukturen Rojavas. Sie dienen der Unterbringung, der Versorgung und Rehabilitation der unzähligen Kriegsverletzten. Die Bewohner sind mutige Frauen und Männer der Verteidigungseinheiten YPJ und YPG, die ihr Leben im Kampf für Freiheit, Gleichberechtigung und soziale Ökologie riskiert haben und dabei verletzt wurden.
Diese Heldinnen und Helden kämpfen nicht nur seit Jahren gegen den anhaltenden Genozidversuch der türkischen AKP-Regierung unter Staatschef Erdoğan, sondern auch gegen die ständigen Attacken und das angestrebte Kalifat durch verbündete Proxy-Milizen islamistischer Terroristen wie dem Daesh (Islamischer Staat) und al-Qaida. Im Gespräch mit den Verletzten wird schnell klar, dass es auf Seiten der kurdischen Bevölkerung nicht um Macht, Reichtum oder die Ausrufung eines eigenen Staates geht. Sie fordern lediglich Anerkennung und kommunizieren deutlich, dass sie Teil des syrischen Staates sind.
Weltweit gibt es rund 40 Millionen Kurdinnen und Kurden, die 1916 durch das Syke-Picot-Abkommen auf die Länder Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt und damit selbst zur politischen Minderheit wurden. Die Historie ist gefüllt mit genozidalen Katastrophen, die zu der heutigen Lage geführt haben, wie zum Beispiel die Verfolgung der Ezid*innen oder die Giftgasangriffe von Dersim in den Jahren 1938/39.
Der aktuelle Angriffskrieg der Türkei stellt einen besonders dunklen Fleck in der weltpolitischen Geschichte dar. Durch die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO, die Handelsabkommen mit Europa und die aktuellen politischen Entscheidungen der USA, Russland und der Europäischen Union wird dieser Krieg nicht nur nicht gestoppt, sondern aktiv unterstützt.
Akuter Fachkräftemangel und fehlende Hilfsmittel
In der täglichen Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten zeigen sich verschiedene Probleme, deren Lösung aufgrund der aktuellen Situation sehr schwierig ist. Es gibt einen akuten Fachkräftemangel. Das Verhältnis von Therapeuten zu Patienten ist immens und die wenigen Therapeut*innen arbeiten in langen und harten Schichten an verschiedenen Einsatzorten. Durch die teils langen Fahrtzeiten wird der Fachkräftemangel noch vergrößert.
Die Ausbildung der hiesigen Therapeuten entspricht keinen internationalen Standards und das erlernte Wissen basiert fast ausschließlich auf biomechanisch-strukturellem Denken, also aus den Anfängen der Physiotherapie in den 1970er Jahren. Vor allem in den Bereichen Neurologie, Physiologie und kognitiver Therapie zeigen sich deutliche Bildungslücken. Das anatomische Basiswissen scheint rudimentär. Dies liegt zum Teil auch an einem gravierenden Mangel an Lehrmaterialien in kurdischer und arabischer Sprache.
Der Großteil der Patientinnen und Patienten vor Ort leidet unter Schussverletzungen, die in irgendeiner Art und Weise die Wirbelsäule, das Rückenmark oder die peripheren Nerven in Mitleidenschaft gezogen haben. Häufig vorkommend sind auch Schusswunden im Bereich des Kopfes, mit kognitiv einschränkenden Folgen. Demnach handelt es sich bei den zu behandelnden Krankheitsbildern am häufigsten um Tetraplegien und Hemiparesen mit allen bekannten Begleiterscheinungen wie Spastiken, Kontrakturen und koordinativen Einschränkungen. Periphere Nervenläsionen und Amputationen mit Folgeerscheinungen sind ebenfalls stark vertreten.
Ein weiteres Problem ist die mangelhafte medizinische Versorgung der Patienten mit Hilfsmitteln, aber auch mit Therapiematerial für die Therapeut*innen. Im Prinzip landet hier alles, was in Europa und den USA nicht mehr gebraucht wird. Das gilt auch für die prothetische Versorgung. In Qamişlo und Hesekê gibt es die Möglichkeit zur Vermessung von Gliedmaßen. Die Prothesen selbst sind jedoch oft mangelhaft angepasst und nicht auf dem aktuellen Stand der technischen und fachlichen Möglichkeiten. Auch hier mangelt es an Fachpersonal. Finanzielle Aspekte und die Versorgung mit neuem Material haben auf diesen Prozess ebenfalls einen großen Einfluss.
Die Reise lohnt sich
Rojava stellt ein beispielloses Lebensmodell dar, das auf der ganzen Welt einmalig ist: Eine multiethnische und säkulare Lebensgemeinschaft, basierend auf Demokratie, Gleichberechtigung und sozialer Ökologie, die seit mehr als acht Jahren einen Brenntiegel der politischen Fehlentscheidungen im Mittleren Osten stabilisiert und den Menschen Freiheit, Sicherheit und Selbstverwaltung ermöglicht. Nun ist Rojava bedroht und erlebt eine humanitäre und ökologische Katastrophe.
Die Möglichkeiten zu helfen sind vielfältig. Die Zeiten sind schwierig und es herrscht Krieg. Aber gerade jetzt lohnt es sich hierher zu kommen, nicht nur um aktiv zu helfen, sondern auch um zu lernen, wie sich ein selbstbestimmtes und freies Leben anfühlt. Als Internationalist vor Ort kann ich nur raten, sich nicht von den Nachrichten abschrecken zu lassen. Ich fühle mich sicher und habe keine Angst, viele Gegenden sind immer noch sicher. Vor Ort besteht ein großer Bedarf an Physio- und Ergotherapeut*innen, Krankenpfleger*innen, Logopäd*innen, Orthopädietechniker*innen und Ärzt*innen.
Aber auch von Europa aus besteht die Möglichkeit, aktiv für Demokratie, Gleichberechtigung und Umweltschutz zu kämpfen. Es werden zum Beispiel dringend Übersetzer*innen gesucht, die medizinisches Schulungsmaterial aus dem Englischen oder Deutschen nach Arabisch, Kurdisch oder Türkisch übersetzen können.
Ich möchte alle motivieren hierher zu kommen, sich einzubringen mit den eigenen Fähigkeiten und zu erfahren, wie es ist, in einer selbstverwalteten Gesellschaft zu leben. Solidarische Grüße aus Rojava!

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